Dr. Ulrich Grünwald (49) ist Oberarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie am Johannes Weßling Klinikum in Minden. In seiner Freizeit engagiert er sich für den American Football in Deutschland. Seit 2000 ist Grünwald Mannschaftsarzt der Jugendnationalmannschaft und seit ungefähr vier Jahren AFVD- und AFCV NRW-Verbandsarzt. Vor der Saison 2015 durfte er die Seattle Seahawks besuchen und den Ärzten und Physiotherapeuten dort bei ihrer täglichen Arbeit über die Schulter schauen. Im zweiten Teil des Interviews mit den German Sea Hawkers erzählt Grünwald von der Hire&Fire-Mentalität in der NFL, gesundheitlichen Risiken der Sportart American Football und seinem Highlight während der Hospitanz in Seattle.
Herr Dr. Grünwald, wir sprachen am Ende des ersten Teils dieses Interviews über die Dimensionen von American Football in den USA. Eine weitere charakteristische Facette des Geschäfts NFL ist die Hire&Fire-Mentalität. Wie haben Sie das Business erlebt?
In der NFL kann man sich nicht sicher sein, am nächsten Tag noch angestellt zu sein. Das gilt für Spieler wie für medizinisches Personal. Donald Rich, der leitende Physiotherapeut, erzählte mir, dass er in seiner Anfangszeit bei den Seahawks nur hospitierte, also kein Geld bekam. Dann wurde er monatsweise beschäftigt, dann immer für eine Saison. Mittlerweile ist er in der 17. Saison in Seattle und sagt immer noch, dass er sich nicht sicher sein kann, am nächsten Tag noch da zu sein. Das ist schon irre. Auf der anderen Seite ist es bei Medizinern häufig so, dass sie sich einkaufen, um Mannschaftsarzt bei einem NFL-Team zu sein. Die müssen ein bisschen Geld mitbringen.
Hire&Fire gilt auch in Bezug auf die Spieler.
Genau, das ist das Business – und noch eine Steigerung zum Profifußball in Europa. Der Spieler muss funktionieren, sonst wird er ausgetauscht. Okay, Marshawn Lynch, Russell Wilson oder Bobby Wagner tauscht man nicht so schnell aus. Aber den etwas weniger bekannten Line-Spieler oder die Kandidaten aus der zweiten Reihe werden schnell mal gewechselt. Deshalb sind die meisten Spieler auch hochdiszipliniert in dem was sie tun, um im Team zu bleiben.
Und sie gehen deshalb gesundheitliche Risiken ein, um ihren Platz im Team zu behalten und nicht aufgrund einer Verletzung aus dem Kader zu fliegen. Spieler wollen spielen. Für ihre Teams lautet die Frage oft: Den Spieler kurzfristig fit machen und einsetzen oder ihn lieber auf lange Sicht gesund werden lassen?
Die Teams sind schon sehr bestrebt, ihre Spieler nicht kaputt zu machen. Der Trainerstab hat die Mannschaft unter dem Gesichtspunkt zusammengestellt, dass die Spieler auch funktionieren. Wenn der Spieler ein Problem hat, beispielsweise muskulär, dann wird er sofort aus der Vollbelastung herausgenommen und gecheckt. Dann wird ein Rehaplan erstellt. Die Teams achten also darauf, ob ihre Spieler fit sind. Wer fit ist, muss Leistung bringen. Wer nur ausfällt, der ist schnell weg. Und deswegen beißen viele Athleten eben die Zähne zusammen, nur wenige Spieler würden als Weichei durchgehen. Aus diesem Grund sitzen in den NFL-Stadien inzwischen unabhängige Supervisor, beobachten, ob sich jemand verletzt hat und geben das sofort an die Seitenlinie durch, die den Spieler dann aus dem Verkehr zieht. Diese Supervisor haben seit der Saison 2015 auch eine direkte Verbindung zum Hauptschiedsrichter, damit der das Spiel notfalls unterbrechen kann. Das alles hat juristische Gründe wegen den Schadensersatzklagen, die auf die NFL einprasselten, weil diese angeblich nicht auf ihre Spieler geachtet hatte.
In diesem Zusammenhang geht es immer wieder um das Thema Kopfverletzungen und Gehirnerschütterungen und die Entdeckung der Krankheit CTE.
Es gab eine Klagewelle gegen die NFL, in deren Folge sich die beiden Parteien – die NFL und die Kläger (Anm. d. Red.: CTE-Betroffene und deren Familien) – auf eine Vergleichszahlung einigten. Langzeitverletzungen wie CTE (Chronisch-traumatische Enzephalopathie) sind ein schwieriges Thema, weil die Symptome von eben dieser genannten Erkrankung beispielsweise vielschichtig und multifaktoriell sind. Man darf nicht vergessen, viele Spieler nehmen Medikamente ein. Das hat Auswirkungen auf den Körper und eben auch aufs Gehirn. Deshalb kann man nicht mit hundertprozentiger Sicherheit sagen, dass CTE nur auf Gehirnerschütterung zurückzuführen ist.
Medikamente sind ein gutes Stichwort. Wie ist die Verabreichung in der NFL geregelt?
Das ist ein heikles Thema, bei dem ich während meiner Hospitanz nicht explizit nachhaken wollte. Ich habe jedenfalls nicht erlebt, dass die Verabreichung von den Trainern forciert wird. Der AFVD hat den NADA-Code (Anti-Doping-Regelwerk der Nationalen Anti-Doping Agentur Deutschland) unterzeichnet, doch was die Spieler hier in Deutschland dann letztendlich machen, können wir auch nur teilweise kontrollieren. Natürlich macht man sich Gedanken, ob da etwas nicht in Ordnung ist, wenn ein junger Spieler 90 Kilo wiegt und ein Jahr später 120 Kilo. Aber das muss man erstmal nachweisen. Die NFL ist bezüglich der Drogenpolitik sehr strikt. Zu Beginn des Jahres 2015 wurden reihenweise Spieler gesperrt.
Wie gehen Sie das Thema der gesundheitlichen Langzeitrisiken in Deutschland an?
Zum einen engagiere ich mich für die Initiative „Schütz Deinen Kopf“ der Hannelore Kohl Stiftung. Zum anderen habe ich jetzt auch in Deutschland die Concussion Protocolls eingeführt. Wir haben ähnlich gelagerte Protokolle wie die NFL, wann ein Spieler nach einer Gehirnerschütterung wieder trainieren darf und wann wieder spielen. Ob die Trainer und Mannschaftsärzte das bei uns im Amateurbereich so umsetzten, kann ich noch nicht endgültig sagen. Aber bei den Profis in der NFL und im College Football wird das gnadenlos durchgezogen, um sich Klagen zu entziehen. An den High Schools hingegen haben nur 40% der Teams überhaupt permanente medizinische Betreuung, das sind ähnliche Dimensionen wie in Deutschland.
Kürzlich kam der Film „Erschütternde Wahrheit (Concussion)“ in die Kinos. Hat American Football ein Imageproblem, weil es als zu brutale Sportart abgestempelt wird?
Das sehe ich nicht so, denn Verletzungen gibt es in vielen anderen Sportarten auch. Jede Sportart hat ihre eigenen Bewegungsabläufe und Formen von Körperkontakt. Die Statistiken zur Verletzungshäufigkeit sehen beim American Football nicht schlimmer aus als beispielsweise beim Fußball oder Basketball. Was ich aber bestätigen kann: American Football ist in den vergangenen Jahren deutlich athletischer und schneller geworden, deshalb gab es auch entsprechende Regeländerung. Demnach wird in der NFL inzwischen viel Wert auf technisch sauberes Spielen gelegt. Tackles mit dem Helm werden heute massiv geahndet. Darauf achten wir in Deutschland und Europa übrigens auch. Der Unterschied ist, dass unsere Spieler hier in Deutschland technisch noch nicht so gut ausgebildet sind wie die Athleten im Mutterland der Sportart. Auch darauf sind wir in Deutschland mit Hilfe von Trainerseminaren fokussiert. Ich bin seit 1984 in der deutschen Footballszene unterwegs – und es hat sich viel getan. Die Zahl der Verletzungen ist geringer geworden.
Was war der schönste Moment der Hospitanz?
Als ich mich endlich auf dem Gelände der Seahawks befand. Ich hatte zuvor schon zwei, drei Mal an der Tür gerüttelt und war nicht reingekommen. Diesmal habe ich es Dank der Hilfe des Sponsors geschafft. Um hinter die Kulissen schauen zu dürfen, brauchst du einfach jemanden, der sich für dich verbürgt.
Kam es auf dem Trainingsgelände in Renton zu Interaktionen mit Spielern?
Nein, die gab es nicht, dafür war ich zu weit außen vor. Man muss sich klarmachen, dass ich dort sozusagen einen Störfaktor darstellte. Die Abläufe in einer medizinischen Abteilung sind sehr stringent, deswegen musste und wollte ich mich raushalten. Mit Donald Rich unterhielt ich mich häufig, er hat mir viele interessante Aspekte seiner Arbeit geschildert. Beispielsweise auch, dass er nur eine Woche Urlaub im Jahr hat. Wer in der NFL arbeiten will, hat wenig Urlaub. Die Arbeitszeiten sind von 6 bis mindestens 17 Uhr. Nach der eigentlichen Saison ist auch keine Zeit zum Durchatmen, denn dann folgen schon wieder Einsätze beim Scouting Combine, wo die Spieler auf Herz und Nieren durchgecheckt werden.
Nachdem Sie ein paar Tage bei den Seattle Seahawks rein schnuppern durften, können Sie sich eine permanente Rückkehr in die USA vorstellen?
Arbeiten werde ich dort nie. Ich habe einfach gerne meine sechs Wochen Urlaub im Jahr. Und ich habe einen tollen Job in Deutschland. Hinzu kommt, dass ich meine eigenen ethischen Wertvorstellungen habe. Und manchmal bin ich mit den Dingen, die im Profibereich gemacht werden, nicht ganz einverstanden. Das bezieht sich vor allem darauf, dass Spieler für die Teams finanzielle Investitionen sind. Für Leistung wird alles getan. Und so kommt es, dass gesundheitliche Folgen meist nur eine zweitrangige Rolle spielen, auch für viele Spieler selbst. Vielen Spielern ist es egal, wenn sie nach der Karriere im Rollstuhl sitzen. Ich als Arzt habe damit ein Problem.
Sehen Sie diesbezüglich auf lange Sicht einen Wandel in den USA? Spieler beenden ihre Karrieren früher, Filme wie „Erschütternde Wahrheit (Concussion)“ erhalten mehr Aufmerksamkeit.
Nein, Erfolg ist die oberste Prämisse, ihm wird alles untergeordnet. Und das ist nicht nur im Sport so, sondern in allen Berufszweigen. Es geht ausschließlich darum, abzuliefern. Das ist soziale Kälte. Wer raus ist, ist raus, denn das soziale Netz, das Menschen auffängt, fehlt. Deswegen sitzen in den USA viele Menschen auf der Straße. Ich denke, wer sich dem Erfolg nicht unterordnen kann, sollte nicht dauerhaft dorthin gehen.
Wie lautet Ihr Fazit der Hospitanz?
Die Hospitanz war der absolute Wahnsinn. Ich konnte mir nicht vorstellen, dass man so effizient arbeiten kann. Außerdem bin ich bei den Seahawks nur auf freundliche Leute getroffen. Jeder war bereit, mir etwas zu erzählen. Und ich durfte den Helm von Marshawn Lynch anfassen. Aber der fühlt sich an wie jeder andere auch (lacht).
Herr Grünwald, wir danken Ihnen für das Gespräch!
Über die Rubrik
„12 Fragen an…“ ist eine Rubrik, in der regelmäßig Interviews unserer Redaktion mit Persönlichkeiten veröffentlicht werden, die in einer Beziehung zur deutschsprachigen Fangemeinde und den Seattle Seahawks stehen. In den Gesprächen geht es um Zusammenhänge zwischen den Interviewpartnern und unserem Lieblingsteam, Erlebnisse und Erfahrungen im American Football und persönliche Geschichten. Alle bisher erschienenen Interviews aus der Serie gibt’s hier zum Nachlesen.