Wenn’s um die deutsche Fußball-Nationalmannschaft geht, heißt es oft so schön: Das Land hat rund 83 Millionen Bundestrainer. Jeder weiß es besser als der in der Realität verantwortliche Joachim Löw. In Football-Deutschland ist das inzwischen ähnlich. Wenn’s nicht läuft, wird diskutiert. Dann werden die vielen Fans der Seattle Seahawks zu vermeintlichen Experten. Oftmals ist das unterhaltsam, denn Diskussionen gehören zum Sport dazu. Manchmal aber sind die Einschätzungen der Fans schlichtweg falsch. Fünf Beispiele aus der Saison 2017.
„Kicker Blair Walsh muss sofort entlassen und ersetzt werden.“
Im Anschluss an drei Spiele wurde von dieser Forderung inflationär Gebrauch gemacht: als Walsh gegen die Washington Redskins drei Field Goals versemmelte, als sein Kick gegen die Atlanta Falcons zu kurz geriet und die Overtime verhinderte und am letzten Spieltag, als Walshs Versuch rechts an den Torstangen vorbeisegelte und damit die Hoffnung auf einen Sieg in letzter Minute zerstörte. Nach einem vielversprechenden Start mit zwölf Treffern aus 13 Versuchen ging es bergab. Am Ende platzierte Walsh 21 von 29 Kicks korrekt.
Die Forderung nach der Entlassung des Kickers, oft verbunden mit Beleidigungen, mag im Eifer des Gefechts ein probates Mittel sein, um dem eigenen Ärger Luft zu machen, doch tatsächlich war sie zu jedem Zeitpunkt unter der Saison einfach nur Schwachsinn. Warum? Weil es schlicht und einfach nicht möglich war, Walsh zu entlassen und einen neuen Kicker zu holen. Es war kein Geld da. Aber…?! Nein, kein aber. Seattle wäre trotz Release noch über der Gehaltsobergrenze oder zumindest knapp darunter gewesen. Walsh bekam von seinen rund $1,1 Millionen Gehalt in dieser Saison $800.000 garantiert. Die Seahawks hätten maximal $300.000 an Bonussen einsparen können, mutmaßlich sogar weniger, weil ein Teil schon ausgezahlt war zu den verschiedenen Zeitpunkten. Davon gibt’s keinen neuen Kicker – und schon gleich keinen guten.
Also, erst rechnen, dann meckern. Oder aber die Entscheidung, Walsh überhaupt zu verpflichten, kritisieren und gleichzeitig den Kicker nicht als alleinigen Sündenbock fürs Verpassen der Playoffs ausmachen. Es gab für die Verantwortlichen in Seattle nämlich überhaupt keinen Grund, den aus Minnesota Vikings-Zeiten gebeutelten Walsh ohne einen ernstzunehmenden Konkurrenten in die Vorbereitung zu schicken.
Wer sich immer noch Stephen Hauschka zurück wünscht: Der Ex-Seahawks-Kicker hat mit den Buffalo Bills in letzter Minute die Playoff-Qualifikation geschafft. Er hätte in Seattle deutlich mehr verdienen wollen, rund drei Millionen. Bei aktueller Finanzlage wäre das nicht drin gewesen. Im Nachhinein ist es einfach gesagt: An anderer Stelle wären Einsparungen vielleicht weniger tragisch gewesen.
Blair Walsh glaubt auch jetzt noch, dass er eine weitere Chance in der NFL bekommen wird und sich beweisen kann. Es wäre ihm zu wünschen. In Seattle wird das aber sehr wahrscheinlich nicht passieren, da er nach der Saison zum Free Agent wird.
„Zu Hause vor den 12s sind die Seattle Seahawks eine Macht.“
Das war einmal. Von 2012 bis 2016 verloren die Seahawks im CenturyLink Field von 45 Heimspielen inklusive Playoffs nur sechs (!). Die beeindruckende Atmosphäre beeinflusste Gegner und stärkte dem Heimteam den Rücken. In dieser Saison unterlag Seattle vor heimischer Kulisse den Washington Redskins, Atlanta Falcons, Los Angeles Rams und Arizona Cardinals. Das Team verpasste erstmals nach 2011 (4-4) wieder eine positive Heimbilanz.
Jahr: Regular Season (Playoffs)
2012: 8-0
2013: 7-1 (2-0)
2014: 7-1 (2-0)
2015: 5-3
2016: 7-1 (1-0)
2017: 4-4
„Die Seattle Seahawks vernachlässigen ihre O-Line. Sie sollten hier mehr investieren.“
Noch so ein Klassiker der Fan-Forderungen: Investiert endlich mehr Geld in die O-Line. Was wäre, wenn jemand behaupten würde, dass in den vergangenen Jahren durchaus viel in die O-Line investiert wurde? Dazu sollte zunächst der Begriff „viel“ genauer definiert werden. „Viel“ was haben die Seahawks investiert? Viel Geld oder viel Draft-Kapital?
Als die Seahawks Anfang 2014 den Super Bowl gewannen, taten sie das mit der teuersten Offensive Line der NFL, $27,5 Millionen war diese wert. Ein Jahr später war die Line, die erneut den Super Bowl erreichte immerhin noch $23,5 Millionen wert (Platz 11). Über die Jahre sank der Wert weiter. Bis Mitte der Saison 2017 war es auf jeden Fall nicht viel Geld, das Seattle in seine O-Line gesteckt hat, um Spieler auf anderen Positionen, hauptsächlich in der Defense, mit langfristigen und lukrativen Verträgen auszustatten. Dann kam Duane Brown von den Houston Texans und Seattle wanderte in der Rangliste nach oben.
Aktuell sind unter den 15 Top-Verdienern bei Seattle drei O-Liner: Luke Joeckel, Justin Britt und Brown. Rund $22,5 könnte Seattle Stand heute in der Saison 2018 für seine Line ausgeben. Das heißt, es wird durchaus einiges an Geld in die Problemzone investiert.
Wie sieht’s mit Draft-Kapital aus? Kein Team hat seit 2010, als Pete Carroll als Head Coach und John Schneider als General Manager die Leitung übernahmen, mehr Spieler für die Angriffslinie im NFL Draft ausgewählt. 16 Mal wählten Carroll und Schneider O-Liner aus. In der aktuellsten Zusammensetzung der Stammspieler sind drei First-Round Picks (Brown, Joeckel und Ifedi) und zwei Second-Round Picks (Britt und Pocic).
Das wiederum würde doch darauf hindeuten, dass O-Line-Coach Tom Cable es nicht geschafft hat, aus gutem Spielermaterial eine solide O-Line zu formen. Also ist er für die schwachen Leistungen der Positionsgruppe zumindest mitverantwortlich, oder? Ausführlich haben wir diese Thematik bereits im Frühjahr 2017 beleuchtet.
„Offensive Coordinator Darrell Bevell allein ist Schuld an der schwachen Offensive des Teams.“
Generell gilt: Einer einzelnen Person die Schuld zuzuweisen, ist zu einfach. Und dann wird’s auch schon verdammt kompliziert. Denn kein Fan und kaum ein Experte kann absolut korrekt nachvollziehen, was bei einem Spielzug wirklich passiert und welcher Spieler welche Aufgabe erfüllt oder nicht erfüllt hat. Wide Receiver Doug Baldwin verteidigt seinen Offensive Coordinator und dessen Spielgestaltung: „Es liegt nicht am Play Calling. Wir wissen, was auf uns zukommt, wenn wir ins Spiel gehen, wir sind gut vorbereitet. Wir schaffen es dann aber nicht, Vorgaben umzusetzen. Das liegt an uns Spielern.“ Das kann man glauben oder nicht.
Der Vorwurf der Fans an Bevell: Zu vorhersehbare Spielzüge, keine Flexibilität, keine Kreativität. Was aber, wenn dem Trainer die Optionen für all das einfach fehlen? Weil das Laufspiel ein Totalausfall war im Jahr 2017, konnte Bevell keine Balance im Spiel schaffen. Weil die O-Line seinem Quartierback keine Zeit verschaffte, konnte er zu selten zeitaufwendige Routen ansagen. Weil seine Receiver zu selten schnell frei kamen, waren auch schnelle Pässe kaum eine Option. Dem Offensive Coordinator waren die Hände gebunden. Was er auch ansagte, die Gegner schienen Bescheid zu wissen, weil sie sich auf nur wenige Optionen vorbereiten mussten.
Trotzdem kamen unter diesen Umständen auch Spiele zustande, in denen Seattle 27, 31, 41 und 46 Punkte auf die Anzeigetafel brachte. Insgesamt landeten die Seahawks auf Platz 15 in Total Offense (Platz 14 im Passspiel und Platz 23 im Laufspiel). Ohne Russell Wilson wäre das Team in den Ranglisten dramatisch abgerutscht. Dass Bevell deshalb seinem Spielmacher gezwungenermaßen die Freiheit ließ, zu improvisieren, viel zu werfen und dabei auch immer wieder zu scheitern, ist nachvollziehbar. Dass auch der Offensive Coordinator nicht immer die richtigen Entscheidungen getroffen hat – sei es zum Beispiel bei der Eingliederung von Jimmy Graham – ist kaum zu leugnen. Möglicherweise muss er dafür die Konsequenzen tragen. Wahrscheinlich ist es jedoch nicht.
„Das war eine schlechte Saison.“
Wenn man besseres gewohnt ist: möglicherweise. Wenn man die Saison rein auf der Bilanz basierend beurteilt und dabei sogar noch die Verletzungen außen vor lässt: nein. Insgesamt haben die Seahawks seit dem NFL-Debüt der Franchise im Jahr 1976 in der Regular Season 658 Spiele absolviert. Davon hat das Team 334 gewonnen, 323 verloren und einmal unentschieden gespielt. Das macht einen Sieganteil von 51 Prozent. Die Saison 2017 hat Seattle mit einem Record von 9-7 beendet, also mit einem Sieganteil von 56 Prozent.
Wem das nicht reicht: Die Seahawks hatten zuletzt 2011 eine Minusbilanz (7-9), das war vor sechs Jahren. Sie sind vom Potenzial her immer noch näher dran an einer zweistelligen Anzahl an Siegen als an einem negativen Record.