Ein ernüchternder Abend. Die Seattle Seahawks haben erstmals unter Pete Carroll ein Heimspiel im September verloren. Beim 27:33 gegen die New Orleans Saints machten wirres Play Calling in der Offensive, desaströses Tackling in der Defensive und unterlegene Special Teams den Unterschied. Eine weitere Erkenntnis: Statistiken sind unterm Strich nicht alles. Die Seahawks sammelten doppelt so viele Yards wie die Saints, mehr First Downs, weniger Strafen und sie hatten mehr Ballbesitz, aber in den entscheidenden Situationen waren sie nicht da. Deshalb stehen sie nach drei Spieltagen bei einem Record von 2-1.
Positiv:
QB Russell Wilson: Allein konnte es der Quarterback dann auch nicht richten. Wilson steht nach drei Spieltagen bei sieben Touchdown-Pässen, zwei erlaufenen Touchdowns, null Interceptions und über 70 Prozent Completions. Er machte gegen die Saints das zweitbeste Spiel seiner Karriere, wenn es nach Passing-Yards geht. 32/50 für 406 Yards (8,1 pro Pass), dazu 51 Rushing-Yards und zwei Scores lesen sich alles andere als schlecht und hätten unter anderen Umständen wohl auch zum Sieg gereicht, aber eben nicht an einem Tag, an dem alle Mannschaftsteile so schwach waren.
Zwei Pässe würde aber auch Wilson wohl gerne zurück haben (neben ein paar zu tief geworfenen Bällen). Da war der Fast-Touchdown-Pass zu Tyler Lockett, der den Receiver um eine Fingerspitze verfehlte, und die versuchte Conversion bei Fourth Down auf Malik Turner, als Wilson den Spielzug von Lauf auf Pass änderte und Turner dann überwarf.
.@DangeRussWilson is the 1st player since 1950 with 400+ pass yds, 2+ pass TD, 50+ rush yds & 2+ rush TD in a game. #Seahawks
— NFL Research (@NFLResearch) September 23, 2019
WR Tyler Lockett: War der Receiver ins Angriffsspiel der Seahawks involviert, verbesserte sich die erwartete Punkteausbeute (EPA) pro Spielzug um 0,57 Punkte. Daher machte es Sinn, Lockett 14 Mal anzuwerfen. Mit seinen elf gefangenen Bällen – ein neuer Reception-Rekord, der den aus der vergangenen Woche um einen Fang verbessert – kam er auf 154 Yards und einen Touchdown. Tyler Lockett ist seiner Rolle als Nummer-eins-Receiver bislang gerecht geworden. Aber: Warum ist Lockett immer noch als Returner im Einsatz? Erstens macht er hier aktuell beim besten Willen nicht den Unterschied. Zweitens ist er als wichtigster Receiver im Moment unersetzlich und so viel im Einsatz, dass zusätzliche Special-Teams-Snaps unnötiges Risiko bergen, einen Schlüsselspieler zu verlieren.
LB K.J. Wright: Der Linebacker mag 30 Jahre alt sein und von einer Knieverletzung zurückkehren, doch die Instinkte haben K.J. Wright nicht verlassen. Kein Verteidiger der Seahawks antizipiert Passrouten und Laufwege so unwiderstehlich und macht damit fehlende Schnelligkeit wett. Wright gab Seattle Hoffnung, als er einen für New-Orleans-Receiver Michael Thomas bestimmten Ball abwehrte und den Seahawks in der zweiten Halbzeit bei 13 Punkten Rückstand eine Chance zum Anschluss gab. Er war an diesem Tag der im positiven Sinne auffälligste Verteidiger, weil er im Gegensatz zu vielen anderen Tackles halbwegs sauber setzte. Daran änderte auch die Pass-Interference-Strafe kurz vor Schluss beim Zweikampf mit Saints-Running Back Alvin Kamara nichts.
Die 18 Tackles vom gewohnt souveränen Middle Linebacker Bobby Wagner sind an dieser Stelle immerhin eine Randnotiz wert.
Neutral:
TE Will Dissly: Der Tight End strauchelte in der ersten Halbzeit, verursachte zwei Strafen (Illegal Block, False Start) und war nicht richtig ins Passspiel eingebunden. Im zweiten Abschnitt drehte Dissly auf, fing am Ende sechs Pässe für 62 Yards und einen Touchdown in der Garbage Time (oder wie auch immer man das nennen mag, wenn man wenige Minuten vor Schluss einem Zwei-Score-Rückstand hinterherrennt), als die Partie entschieden war. Fünf Touchdowns in sieben Spielen sind kein zu vernachlässigender Wert, Dissly ist die glasklare Nummer eins unter Seattles Tight Ends.
Laufverteidigung: Es schien, als hätte die Front Seven der Seahawks Saints-Star Alvin Kamara so wie die gesamte Offensive New Orleans‘ in der ersten Hälfte gut im Griff. Letztendlich nahm Kamara Seattle aber auch nicht mit dem Laufspiel auseinander, sondern mit dem Passspiel und speziell seinen Yards nach dem Catch. Dass es schwer ist, Kamara zu tacklen, beweisen die Statistiken: 90 Prozent seiner Receiving-Yards kommen nach dem Catch und bei fast einem Drittel seiner Catches lässt er einen Verteidiger ins Leere laufen. Seattles Defense machte es Kamara diesmal aber besonders leicht.
Passverteidigung: Wenn ein Spieler wie Michael Thomas nur fünf Bälle für 54 Yards fängt, darf das als Erfolg verbucht werden. Shaquill Griffin beispielsweise hatte neben Wright eine sehenswerte Passverhinderung. Und auch ansonsten kam kein Saints-Receiver auf nennenswerte Aktionen – außer eben Alvin Kamara. Quarterback Teddy Bridgewater hat das Spiel für New Orleans nicht gewonnen. Doch ein guter Plan für die Partie ermöglichte es ihm, seinem besten Mitspieler den Ball in die Hand zu geben oder zu werfen.
O-Line: Die Angriffslinie ließ keinen Sack an Russell Wilson zu. Das ist nach zuvor insgesamt acht Sacks aus den zwei Auftaktpartien ein Erfolg. Doch die O-Line war in den entscheidenden Momenten nicht zur Stelle, beispielsweise, als Chris Carson vor der Halbzeitpause den Ball bei 4th & Inches über die gelbe Linie drücken sollte, aber nicht vorwärts kam.
Negativ:
Play Calling: Die vergangene Woche war dann wohl wirklich nur eine Ausnahme. Vom knackigen Kurzpassspiel war gegen die Saints nichts mehr zu sehen. Vielleicht sah Offensive Coordinator Brian Schottenheimer keine Notwendigkeit, das Spiel anzupassen, weil die O-Line dem Druck der Saints deutlich besser standhielt und Russell Wilson im Spiel kein einziges Mal gesacked wurde. Vielleicht verstehen wir Zuschauer aber auch einfach zu wenig von American Football. Was wir aber verstehen: Diese Strategie der Läufe bei First und Second Down geht viel zu oft in letzter Zeit einfach nicht auf oder wird nur durch die individuelle Klasse von Russell Wilson zu einem halbwegs erträglichen Modell. Wenn die O-Line beim Run-Blocking keine Lücken kreieren kann – so war es in den ersten Wochen der Saison – dann wird jeder Lauf zum Lauf gegen eine Wand. Am Ende wirkte es so, als liefen die Seahawks, wenn sie passen sollten und passten sie, wenn sie laufen sollten.
Zeitmanagement ist im Zusammenhang mit dem Play Calling ein weiterer Kritikpunkt. Es wird wohl kaum eine logische Erklärung dafür geben, dass die Seahawks kurz vor der Pause zwei Timeouts liegen ließen, nur damit DK Metcalfs 54-Yard-Catch wegen der dann abgelaufenen Uhr komplett wertlos blieb. Über die Entscheidung, nach dem dritten Touchdown keine Two-Point Conversion zu versuchen, um den Spielstand bei 2:48 Minuten auf der Uhr im vierten Quarter auf elf Punkte Rückstand (zwei Scores) zu verkürzen, muss man an dieser Stelle dann wohl auch nicht mehr diskutieren – es wirkte vieles undurchdacht am Sonntag in Seattle. Dass dies aber der Hauptgrund für die Niederlage war, ist zu bezweifeln. Zu oft gingen die Seahawks trotz schwachen Play Callings und miesen Zeitmanagements in der Vergangenheit als Sieger vom Platz. Diesmal machten sie diese Option mit zu vielen individuellen Fehlern zunichte.
Special Teams: Eins vorweg: Die Special Teams der Saints, allen voran Punter Thomas Morstead, waren bis auf einen nicht gefangenen Punt (Rookie Cody Barton eroberte den Ball für die Seahawks, die konnten ihn aber am Ende nicht verwerten) gut drauf am Sonntagabend. Morstead nagelte in der ersten Halbzeit gleich zwei Bälle innerhalb von Seattles 5-Yard-Linie fest. Zudem trug Returner Deonte Harris einen recht miesen Punt von Michael Dickson direkt nach Seattles erstem Drive von der Mittellinie in die Endzone. Dazu kamen Fehler in den Special Teams der Seahawks. Am kostspieligsten war der von D-Liner Al Woods, der bei einem Field-Goal-Versuch der Saints bei 4th & 4 durch eine Strafe (Illegale Formation) für ein neues First Down für New Orleans sorgte.
Tackling: Man wollte nicht mehr hinsehen, sobald Alvin Kamara im offenen Feld den Ball bekam. Er ließ drei, vier, fünf Verteidiger aussteigen, an sich abprallen oder an seiner Ausrüstung abrutschen. Besonders Linebacker Mychal Kendricks und Safety Bradley McDougald blieben mit miesen Tacklings in Erinnerung. Wie viele dieser Tackling-Probleme auf die träge Base-Formation mit drei Linebackern zurückzuführen sind, bleibt unklar, bis die Snap-Anzahl aller Spieler bekannt ist.
RB Chris Carson: Es begann mit ein paar Ausrutschern, die man großzügig als Ausrutscher bezeichnen kann. Das passiert schon mal, wenn man auf in der Offseason neu verlegtem Kunstrasen zum ersten Mal bei Regen spielt. Mit viel Herz ließ man Carson auch noch den dritten und vierten Stolperer durchgehen, trotz zu diesem Zeitpunkt schon gewechselten Schuhwerks. Als er dann im zweiten Quarter erstmals für einen längeren Lauf durchbrach, schien das Schuh-Problem gelöst. Doch es wurde noch bevor Carson den Boden berührte durch das Fumble-Problem ersetzt, das sich der Running Back der Seahawks in der Sommerpause angeeignet hat. Die Saints nahmen den Ball auf und trugen ihn an staunenden Seahawks vorbei in die Endzone. Zum dritten Mal im dritten Spiel verlor Carson einen Ball – und da ist der Fumble in Week 2 kurz vor Schluss nicht eingerechnet, denn der war eine Koproduktion vom Läufer, von Wilson und von Seattles O-Line. Anschließend übernahm zeitweise C.J. Prosise in Lauf- und Passspiel, doch auch er fand gegen die starke Saints-Laufverteidigung kaum eine Lücke.
D-Line: Erstmals liefen die Edge-Neuzugänge Jadeveon Clowney und Ziggy Ansah in einem Spiel gemeinsam als Flügelzange für die Seahawks auf. Zu sehen war davon jedoch in Week 3 noch nicht viel. Am präsentesten war Ansah, wenn er nach ein paar Plays mit den Händen in die Hüften gestützt und schwer atmend auf dem Spielfeld stand. Auch von Defensive Tackle Poona Ford war nach überstandener Wadenverletzung gegen die Saints kaum etwas zu sehen. So waren es am Ende auch auf dieser Seite erstmals in dieser Saison null Sacks für die Seahawks. Darüber dürfte sich aber im Gegensatz zur O-Line-Statistik niemand gefreut haben.
Verletzungen:
FS Bradley McDougald musste die Partie in der zweiten Halbzeit für einige Snaps verlassen, weil er sich am Sprunggelenk verletzt hatte, kehrte aber schon nach kurzer Zeit wieder zurück und ersetzte seinen Backup Marquise Blair. LT Duane Brown zog sich eine Zerrung im Oberarm (Bizeps) zu und wurde deshalb vorsichtshalber aus dem Spiel genommen. RB Rashaad Penny (Oberschenkel) machte sich zwar warm, wurde dann jedoch nicht aktiviert. Die Rückkehrer David Moore (Oberarm) und Poona Ford (Wade) überstanden die Partie ohne neue Blessuren. DE Ziggy Ansah (Schulter, Leiste) debütierte für eine limitierte Anzahl an Snaps und hatte höchstens noch mit der Ausdauer Probleme. Ach, und dann war da noch HC Pete Carroll, der vor der Begegnung mit mehreren Stichen an der Nase genäht werden musste. Mehr dazu im Fazit.
Fazit:
Der Vorher-Nachher-Vergleich zum heutigen Spiel am Beispiel von Head Coach Pete Carroll: pic.twitter.com/4vUADfwKAR
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) September 22, 2019
Head Coach Pete Carroll erklärte nach dem Spiel, er habe einen schlechten Tag gehabt. Worauf genau er das bezog, ist unklar. Er dürfte aber nicht den Moment vor dem Spiel gemeint haben, als ihm Cody Barton beim Aufwärmen einen Ball so an die Nase geworfen hatte, dass er dreieinhalb Stunden mit blutender Risswunde an der Nase am Spielfeldrand stand. Sollte er sich bei seiner Analyse aufs Play Calling (beispielsweise in 4th-&-1-Situationen) und die Defensiv-Strategie fürs Spiel bezogen haben, dürfte er nicht ganz unrecht haben.
Denn das war nix. Vor der Partie schien der 3-0-Record gegen die ohne ihren Quarterback Drew Brees und Middle Linebacker Alex Anzalone antretenden New Orleans Saints durchaus realistisch. Doch individuelle Fehler und eine fast durchweg schlechte Mannschaftsleistung machten die Hoffnung auf den ersten Saisonauftakt mit drei Siegen in Serie seit 2013 zunichte. So blöd es bei der überragenden Vorstellung von Running Back Alvin Kamara klingt – die Seahawks wurden nicht von der Saints-Offense geschlagen, sondern von sich selbst, weil sie die Special Teams und die sowieso starke Defense von New Orleans mit eigenen Fehlern stark machten. Kamara sorgte mit seinen Läufen und Fängen zusätzlich immer wieder für Rückschläge, von denen sich Seattle nie erholte.
Am kommenden Wochenende warten in Glendale die Arizona Cardinals zum ersten NFC-West-Aufeinandertreffen der Saison, bevor es eine Woche später bei Thursday Night Football zu Hause im CenturyLink Field gegen die Los Angeles Rams geht. Hätten die Seahawks an diesem Sonntag keinen derart schwachen Start in die Partie hingelegt, würden sie womöglich mit einem 4-0-Record ins erste Flutlichtspiel der Saison gehen.