See A Hawk: Alton Robinson

Jedes Jahr gibt es rund um den NFL Draft immer wieder aufkommende Diskussionen rund um die Philosphie, wie man denn nun richtig Spieler auswählt. Nimmt man den besten verfügbaren Spieler, der noch auf dem Big Board des Teams zu finden ist? Oder bedient man den dringendsten Bedarf, zieht dafür unter Umständen einen Spieler, der zwar niedriger eingestuft war, aber eine vermeintliche Baustelle im Team beseitigt? Ich bin klar der Meinung, dass man den besten verfügbaren Spieler wählen sollte. Lässt man die Talentauswahl 2020 nochmals Revue passieren, so gehen die Seahawks ähnlich vor. Mit Jordyn Brooks beispielsweise wurde ein Spieler auf einer Position gewählt, die eigentlich (noch) als Prunkstück des Kaders gilt.

Ideal wird es für ein Team, wenn Talent und Bedarf aufeinander treffen. Für John Schneider war die Tatsache, dass Darrell Taylor Mitte der 2. Runde noch zu haben war und dazu auf einer Position, auf der das Team dringend gutes Personal benötigt, sogar einen Trade nach oben statt nach unten wert.

Anfang der 5. Runde wurde dann klar, dass nicht nur den Experten, sondern auch dem Front Office der Seahawks bewusst war, dass auf der Defensive-End-Position dringender Bedarf herrscht. Mit dem zweiten Pick der 5. Runde zogen die Seahawks nämlich ihren zweiten Defensive End. Dieser verfügt über herausragende Athletik, hat aber auch eine nicht zu verschweigende Vergangenheit. Was kann Alton Robinson sportlich leisten?

In der Rubrik “See A Hawk” stellen wir in unregelmäßigen Abständen Spieler der Seattle Seahawks – oftmals Draft-Neuzugänge – etwas genauer vor.

DE Alton Robinson

Kurzinfos:

  • College: Syracuse (2017-2019)
  • Alter: 22 Jahre (15. Juni 1998)
  • Größe: 193 cm
  • Gewicht: 117 kg
  • Armlänge: 82 cm
  • Handgröße: 23 cm
  • Draft: 5. Runde, Pick #148

College-Statistiken (2019):

  • Spiele: 12
  • Sacks: 4
  • Tackles (Solo/Gemeinsam): 46 (22/24)
  • Pässe verteidigt: 3
  • Fumbles (Forciert/Erobert): 1 (1/0)

Werdegang

Alton Robinson verbrachte drei Jahr an der Syracuse University im Staat New York und damit auf einem der kleineren Division-1-Colleges. Das geschah aber nicht ganz freiwillig: Ursprünglich hatte sich Robinson 2016 nämlich für Texas A&M entschieden. Das in Aussicht gestellte Stipendium wurde nach einer Anklage wegen Raubs (Diebstahl von Handtasche und Telefon seiner damaligen Freundin, nachdem er diese geschubst haben soll) entzogen. Die Anklage wurde aber schlussendlich fallen gelassen, genau wie bei einem ähnlichen Vorfall im Jahre 2015.

So spielte Robinson in seinem ersten College-Jahr am Northeastern Oklahoma A&M College und dort gegen eine Konkurrenz, die ihm nicht gewachsen war – 67 Tackles, 17 Tackles for Loss und 14 Sacks waren Robinsons Bilanz im ersten Jahr. Nach Ende der Saison rekrutierte die Oklahoma State University Robinson erneut. Sie konnte ihm aber wegen des neuen, strikteren Verhaltenskodex‘ der Big-12 Conference (kurz nach dem Skandal um sexuelle Gewalt an der Baylor University musste die Liga handeln) kein Stipendium mehr anbieten. Er entschied sich daraufhin zunächst für die New Mexico State University, zog seine Zusage aber dann zurück und ging an die renommiertere Syracuse University.

Sportlich kam Robinson frei von Verletzungen durch seine College-Zeit. In seinem zweiten Jahr, dem ersten für Syracuse, gelangen ihm fünf Sacks und 30 Tackles. Diese Zahl konnte er in seinem sportlich beeindruckendem Junior-Jahr nochmals übertreffen: 39 Tackles, davon 17 für Raumverlust und zehn Sacks gingen auf sein Konto. Zu diesem Zeitpunkt galt er als Pick an Tag eins oder spätestens Tag zwei. Im Senior-Jahr brach Robinsons Leistung unerklärlicherweise ein. Er brachte es nur noch auf vier Sacks und neun Tackles für Raumverlust. Das und seine nicht zu vernachlässigende Vorgeschichte könnten Gründe sein, warum Robinson letztendlich bis in die 5. Runde durchgereicht wurde.

Videoanalyse

Physisch bringt Robinson alle Anlagen für einen typischen Defensive End in der NFL mit. Er verfügt über einen explosiven Antritt, mit dem er die gegnerische Offensive Line zügig nach dem Snap unter Druck setzen kann. Die Umwandlung von Speed zu Power ist bei Robinson stark ausgeprägt, er kann seine Geschwindigkeit für kraftvolle Aktionen nutzen. Robinson kann selbstverständlich auf Defense End als Pass Rusher eingesetzt werden, ist aber auch sehr diszipliniert in der Laufverteidigung.

Für die stattliche Größe von 193 Zentimetern verfügt er über eine tiefe Beuge des Knies. Daraus ergeben sich eine gute Balance und eine gewisse Tiefe des Körpers, mit der er den Gegner attackieren kann. Pass-Rush-Bewegungen sind zwar in Robinsons Repertoire vorhanden, diese gilt es aber weiter auszubauen.

In manchen Phasen des Spiels macht Robinson den Eindruck, als würde er abschalten oder vom Gegner komplett aus dem Spiel genommen. Gehen Spielzüge nicht in seine Richtung, versucht er nicht, doch noch Einfluss auf den Spielzug zu nehmen. Die Möglichkeit, zur gegenüberliegenden Seite zu sprinten, um beispielsweise die Laufverteidigung dort zu unterstützen, nimmt er nicht wahr. Ist Robinson einmal in Pass-Rush-Situationen geblockt, so verfügt er über keinen Plan B. Er kann sich, einmal in den Armen der Offensive Line gefangen, nicht mehr von dieser lösen und verfügt über keine oder sehr wenige Konteraktionen.

Größte Stärke: Alton Robinson, auf der linken Seite der Defensive Line aufgestellt, verfügt über einen überdurchschnittlich guten Antritt, mit dem er schnell Raum zur Offense Line gut macht. Man sieht förmlich, wie er schneller als seine Teamkollegen aus den Startlöchern kommt. In folgender Szene setzt Robinson diese Schnelligkeit auch in Kraft um (Speed-to-Power-Conversion) und kann den Gegenspieler nach hinten schieben. Das ermöglicht es ihm, zum Quarterback zu kommen und den Fumble zu forcieren.

Größte Schwäche: Robinson verlässt sich beim Pass Rush sehr auf seine Schnelligkeit und Athletik. Wird ihm der Weg über Außen abgeschnitten oder er erfolgreich geblockt, hat Robinson keine Alternativen in seinem Repertoire. Daraus resultiert eine Inkonstanz in seinen Aktionen, die vermutlich auch seine Produktion im letzten Jahr am College hat einbrechen lassen. Hier würde ich mir wünschen, dass er seine Konter-Aktionen weiter ausbaut und an seiner Hand-Technik arbeitet. In der folgenden Szene wäre beispielsweise das Wegschlagen der Hände des Gegenspielers mit anschließendem Ausweichen nach Innen eine mögliche Lösungen gewesen, um zum Quarterback zu gelangen.

Seahawks-Vergleich:

Fazit

Um das wahre Potenzial von Alton Robinson einschätzen zu können, müsste man mehr Tape aus der Saison 2018 zur Verfügung haben. Da war Robinson deutlich produktiverer als in der vergangenen Saison. Die sinkende Produktion – ein sportlich einfach schlechteres Jahr – wird in Summe mit der nicht ganz so schönen Vorgeschichte Robinsons dazu geführt haben, dass er bis in die 5. Runde fallen konnte. Zu diesem Zeitpunkt des NFL Draft haben die Seattle Seahawks mit Robinson aber einen guten Value-Pick getätigt. Die körperlichen Anlagen Robinsons sind wie für die NFL gemacht, beim Combine legte er den drittbesten 40-Yard-Sprint (4,69 s), die zweitbeste Höhe beim vertikalen Sprung (90 cm) und die viertbeste Leistung beim Drei-Hütchen-Drill (7,32 s) hin. Athletische Werte, in die sich das Trainerteam rund um Head Coach Pete Carroll verliebt haben könnte.

Die D-Line der Seahawks kann jede Hilfe dringend gebrauchen. Es ist nicht verwunderlich, dass nach dem Pick Darrell Taylors mit Alton Robinson ein zweiter Defensive End den Weg in den Pacific Northwest gefunden hat. In einer Positionsgruppe, für die das Carroll-Motto „Always compete!“ noch bedeutender sein wird, da weit offen, gilt es für Robinson. Er muss im voraussichtlich bald beginnenden Training Camp auf sich aufmerksam machen. Was benötigt es dazu? Neben Konstanz, die Robinson bis dato leider abgeht, fehlt es Robinson wie vielen Rookie-Edge-Verteidigern an Pass-Rush-Moves.

Im direkten Vergleich der Rookies auf Defensive End sehe ich Darrell Taylor als den Spieler mit dem größeren Talent. Er hat angesichts seines Draft-Status‘ auch die größten Chancen auf Spielanteile. Robinson ist aber allein durch seine Athletik ein spannender Spieler, der mit entsprechender Entwicklung eine gute NFL-Karriere hinlegen kann. Im ersten Jahr sehe ich jedoch noch keinen direkten Einfluss durch Robinson, sondern höchstens eine Rolle in der Rotation. Aber: Robinson könnte die potenzielle Überraschung der diesjährigen Seahawks-Draft-Klasse werden. Für mich ist er ein Sleeper, der sich hoffentlich in die John Schneiders Liste der überdurchschnittlichen bis herausragenden späten Draft-Picks einreiht.