Zweieinhalb Viertel smarter Football, eineinhalb Viertel Hasenfüßigkeit, fehlende Cleverness und altbekannte Fehler. Die Seattle Seahawks haben beim Washington Football Team im FedExField eine Pflichtaufgabe erfüllt. Sie sind in der elften Saison unter Head Coach Pete Carroll zum neunten Mal in die Postseason eingezogen. Aber sie zeigen auch weiterhin Phasen, die man von einem Playoff-Team nicht sehen will, weil sie von besseren Gegnern härter bestraft werden.
Mit einer konservativen Strategie aus Läufen, kurzen Pässen und wenig Tiefpassspiel gingen die Seahawks in die Partie – wohlwissend, dass die WFT-Offensive um Quarterback Dwayne Haskins potenziell harmlos sein und das Schneckentempo ihrer eigenen Offensive selten ausnutzen würde. Genau so kam es und funktionierte zumindest in der ersten Halbzeit ordentlich. Als dann nach der Pause Running Back Carlos Hyde mit einem Lauf über 50 Yards in die Endzone auf 20:3 stellte, schien das wie die Vorentscheidung. Doch die Seahawks wären nicht die Seahawks, wenn sie nicht Spiele wieder spannend machen würden (außer gegen unterirdische New York Jets).
Zwei Touchdowns im vierten Viertel brachten Washington in Schlagdistanz – und deren Sieg in greifbare Nähe. Dass ausgerechnet zwei Sacks nacheinander einer ansonsten blassen Defensive Line für die Entscheidung sorgten, passt zu diesem wieder einmal verrückten Football-Abend mit den Seahawks.
Der Spielverlauf:
- 1. Quarter: Nach einem schnellen Three and Out des WFT marschieren die Seahawks mit Läufen, Checkdowns und schnellen Pässen übers Feld. Erst eine Holding-Strafe stoppt sie und erzwingt das Field Goal. Jason Myers verwandelt aus 43 Yards zum 3:0. Washington bleibt anschließend weiter harmlos in der Offensive. Seattle kommt aber ebenfalls nicht vorwärts. Und so tauschen die Kontrahenten bis zum Ende des Viertels munter Punts aus.
- 2. Quarter: Der dritte Drive der Seahawks endet erneut mit einem Field Goal von Myers, diesmal aus 40 Yards. Danach erreicht das Football Team erstmals die Redzone, doch Shaquill Griffin fängt einen abgefälschten Ball kurz vor der Endzone ab. Was folgt, ist ein Touchdown-Drive über 97 Yards gegen eine der besten Verteidigungen der NFL. Jacob Hollister krönt ihn mit einem Fang in der Endzone, den Russell Wilson aus 10 Yards in seine Arme gefeuert hat. Neuer Spielstand – 13:3.
- 3. Quarter: Die Seahawks eröffnen die zweite Halbzeit mit einem Drive, der in drei Plays dreimal Chris Carson involviert. Als er eine Pause bekommt, nutzt Carlos Hyde seine Chance mit einem 50-Yard-Touchdown-Lauf zum 20:3. Anschließend profitiert auch D.J. Reed von einer schlechten Entscheidung Dwayne Haskins‘ und fängt die zweite Interception des Tages. Es folgen: Punt (Seahawks bei 4th & 1 an der Mittellinie), Punt, Punt. Dann überquert Washington gegen eine weiche Seattle-Defense das Feld und…
- 4. Quarter: …findet in Person von Peyton Barber erstmals an diesem Tag die Endzone. Weil der PAT nicht sitzt, steht es 20:9. Für die Seahawks ist an der gegnerischen 39 Schluss, weil ein abgefälschter Pass Russell Wilsons in den Händen von Daron Payne landet. Das Football Team nutzt den Ballgewinn und Ex-Seahawk J.D. McKissic überquert zum 20:15 die Goalline. Die Two-Point Conversion misslingt. Weil Hyde dann einen fangbaren Ball nicht fängt, puntet Seattle abermals und gibt Washington die Chance auf den Game-Winning Drive. Sacks von L.J. Collier und Carlos Dunlap machen diesen jedoch zunichte.
Die Hauptdarsteller:
SS Jamal Adams: Man könnte seine Leistung wieder einmal in Stats zusammenfassen. Oder einfach mal in einem einzigen Spielzug. Adams ist ungefähr 15 Yards entfernt von Dwayne Haskins, als Carlos Dunlap den Sack schaffen muss. Doch Haskins entflieht dem Defensive End und rast Richtung Seitenlinie. Aus der Tiefe des Feldes kommt Adams angeschossen und tackelt ihn noch vor der Line of Scrimmage zum Sack. Phänomenal. Und: Sack Nummer 9,5 in dieser Saison. Trotz vier Spielen Verletzungspause. Trotz Safety-Position. Und trotz zweier gebrochener Finger, wie sich nach dem Spiel herausstellte.
Jamal was HERE! And got a sack. pic.twitter.com/RR8zU02hHr
— Dick Fain (@dickfain) December 20, 2020
Die Nebendarsteller:
Ehrenvolle Erwähnung: CB Ugo Amadi und CB D.J. Reed fürs harte, flinke, hautenge Cornerbacken. Das Kurzpassspiel Washingtons war lange Zeit abgemeldet. Amadi flog übers Feld wie eine kleine Kanonenkugel. Reed fing einen Haskins-Pass und wehrte drei weitere ab. Die Defensive für zehn Quarter ohne kassierten Touchdown. Die O-Line für ein sensationelles Spiel gegen den starken Pass Rush des WFT. Left Tackle Duane Brown und seine Kollegen ließen keinen einzigen Sack zu.
Stets bemüht: QB Russell Wilson spielte ein sachliches, abgeklärtes Spiel ohne spektakuläre Würfe oder Zahlen, in dem er nicht zu viel wollte. Fast wäre er fehlerlos geblieben. Doch der von Montez Sweat abgewehrte Pass nach Wilsons Improvisation außerhalb der Pocket landete in des Gegners Händen. Vielleicht wäre wegwerfen besser gewesen, denn wieder einmal wollte der Spielmacher sein Glück erzwingen. Sagt sich hinterher so leicht. Das Play Calling ließ in Halbzeit eins vermuten, dass die Seahawks aus dem Spiel gegen die New York Giants gelernt hatten. Sie setzten gegen eine starke Defensive auf kurze Pässe und ihr (gut funktionierendes) Laufspiel. So machten sie die D-Line des Washington Football Team lange zum Non-Faktor und schenkten der Secondary keine Picks durch erzwungenes Tiefpassspiel. Später fehlte dann die Balance, als Seattle den Sieg über die Zeit retten wollte.
Meh: Fourth-Down Conversions bleiben für Seahawks-Cheftrainer Pete Carroll weiterhin ein Fremdwort und Mysterium zugleich. Jemand, der an der gegnerischen 37 lieber puntet als kickt, will natürlich auch bei 4th & 1 an der Mittellinie seiner Offensive nicht vertrauen. Schade, denn Seattle hätte das Spiel schon im dritten Quarter vorentscheiden können. Von der Defensive Line kam bis zum letzten Drive Washingtons viel zu wenig. Selbst ein Backup-Quarterback bringt seine Pässe (wenngleich für wenig Raumgewinn) an, wenn ihn niemand unter Druck setzt. WR DK Metcalf ist nahezu ausgeschaltet, wenn der Gegner mit zwei tiefen Safetys agiert. Dagegen haben die Seahawks noch immer kein Mittel gefunden. Gerade spät in der zweiten Halbzeit hätten sie es dringend gebraucht.
Die Highlights:
Cornerback Shaquill Griffin ist im Vertragsjahr. Bislang spielte er 2020 nicht immer so, als sei ihm das bewusst. In dieser Szene wusste er aber wohl bestens Bescheid. Und muss sich bei Free Safety Quandre Diggs für den abgewehrten Pass bedanken.
Und er fliegt, fliegt, fliegt…pic.twitter.com/4wd64PIRyA
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) December 20, 2020
Als Passempfänger baute er einen Bock, als Läufer baute er die Seahawks-Führung aus. Running Back Carlos Hyde war Anfang der zweiten Halbzeit auf und davon – bloß die Vorentscheidung war es wie so oft leider nicht.
All aboard the Hyde train! 🚂pic.twitter.com/sZjQwATEl6
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) December 20, 2020
Die tatsächliche Vorentscheidung lieferte dann erst in der vorletzten Spielminute Defensive End Carlos Dunlap (und ein Play zuvor L.J. Collier. Den Doppel-Sack darf man natürlich mit einem Purzelbaum feiern. Über Haltungsnoten wollen wir an der Stelle lieber nicht sprechen.
Carlos Dunlap bull rushed him and then celebrated his sack with a somersault 😅 @Carlos_Dunlap @Seahawks
📺 #SEAvsWAS on FOX pic.twitter.com/1f8rf6Hzek
— The Checkdown (@thecheckdown) December 20, 2020
Die Randnotizen:
- K Jason Myers übertraf mit seinen zwei Field Goals die Rekord-Serie von Orlindo Mare aus dem Jahr 2009. 31 Kicks in Serie hat noch kein Seahawk vor ihm verwandelt.
- P Michael Dickson puntet weiter wie ein All-Pro, auch wenn das nie für die Offensive spricht. Alle vier Punts des Australiers landeten innerhalb der gegnerischen 20.
- WR Tyler Lockett war kaum zu sehen im Spiel, stellte aber dennoch mit seinen vier Fängen für 34 Yards einen neuen individuellen Rekord auf. Sein bisheriger Bestwert lag bei 82, nun steht er bei 85 Catches – und zwei Spiele stehen noch aus. 80 Yards fehlen ihm noch zur zweiten 1.000-Yard-Saison überhaupt.
- RB Rashaad Penny war endlich wieder auf dem Spielfeld. Der Running Back feierte gegen Washington sein Comeback und bekam zwei Läufe, aus denen er insgesamt sechs Yards Raumgewinn machte.
- Nur fünf von zwölf Third Downs verwandelten die Seahawks am Sonntag. Washington schaffte zehn von 17.
- Die San Francisco 49ers entließen CB D.J. Reed im August. Sie dachten, er würde aufgrund einer Verletzung die gesamte Saison verpassen. Und da isser nun als Seahawks-Verteidiger, der Plays am laufenden Band macht und einen Stammplatz verdient hat. Auch wenn Tre Flowers und Quinton Dunbar zurück sind.
- Vier Strafen für 45 Yards kassierte Seattle gegen Washington, zwei davon in der Offensive (Holding, False Start). Das ist verkraftbar. Doch für die Offense ist jede Flagge eine zu viel, wenn die Spielidee auf kleinen Raumgewinnen basiert. Die Angriffsbemühungen werden so unüberwindbar zurückgeworfen.
- Scorigami?!
Ah the phantom 1 point score on a routine checkdown pass pic.twitter.com/TobKlm2gmn
— Samuel Gold (@SamuelRGold) December 20, 2020
Die Verletzten:
Für Right Tackle Brandon Shell kam das Spiel nach der erneuten Verletzung am Sprunggelenk zu früh. Defensive End Carlos Dunlap war nach einer Woche Pause wieder im Kader.
Eine kurze Schrecksekunde Mitte der ersten Halbzeit blieb ohne Konsequenzen. Wide Receiver DK Metcalf hatte sich das Bein beim Fangversuch heftig überstreckt, mit eigener Kraft aber wohl schlimmeres verhindert. Weniger glimpflich ging es kurz vor der Pause bei einem Kickoff-Return Washingtons für Running Back DeeJay Dallas aus. Er wurde mit geschientem rechten Fuß vom Feld gefahren. Und wenig später humpelte dann auch noch Cornerback Shaquill Griffin vom Rasen, kehrte aber nach wenigen Snaps wieder zurück.
Nach dem Spiel gab Pete Carroll bei Dallas leichte Entwarnung. Er habe sich zumindest nichts gebrochen.
Das Zitat:
„Die Seahawks haben meine Saison gerettet.“ -Defensive End Carlos Dunlap über das Playoff-Ticket, das er mit Seattle gerade gebucht hat – auch weil er die Seahawks per Sack gerettet hat
Der Tweet:
Bedarf keiner Erklärung, oder?
seahawks twitter after every close win pic.twitter.com/5zpmEITsFn
— Mina Kimes (@minakimes) December 20, 2020
Das Fazit:
Was nehmen wir mit aus dieser Partie? Dass die Seattle Seahawks sich auf einen nicht ganz schlechten Gegner gut vorbereitet haben. Dass sie den Pass Rush des Washington Football Team mit smartem Play Calling und starker O-Line ausgeschaltet haben. Und dass ein zu Beginn der Saison verletzter Cornerback ihre stärkste Verpflichtung vom freien Markt seit langer Zeit ist.
Die weiter verbesserte Defensive gibt Pete Carroll nun vermeintlich ein Argument, weiter so konservativ spielen zu lassen wie an diesem Sonntag. Dabei sollte das Gegenteil passieren. Oder zumindest eine gesunde Balance da sein, die Russell Wilson nicht in waghalsige Aktionen zwingt und das Laufspiel nicht gegen Wände rennen lässt. Die Seahawks driften 2020 zwischen Extremen – den Mittelweg schaffen sie bislang zu selten.
Vielleicht übertrieben die Seahawks es mit den kurzen Pässen und Läufen gegen Ende der Partie ein wenig und brachten ihren Sieg dadurch in Gefahr. Gewiss verfiel die Defensive mit Absprachefehlern in der Deckung in alte Muster. Sicher fehlte erneut das Element des tiefen Passes komplett. Aber Seattle gewann am Ende trotz dieser Widrigkeiten.
Man findet gute Argumente dafür, diesen Sieg der Seahawks-Defensive zuzuschreiben. Diese Ansicht aber würde verkennen, dass Seattles Offensive dem stärksten Mannschaftsteil des Gegners gegenüberstand und diesen kontrollierte. Das ist die wahre Leistung des Abends. Und das kann man sagen, ohne damit die eigene Defense zu diskreditieren.
Ausblick: In Week 16 empfangen die Seahawks am 27. Dezember um 22.25 Uhr (statt 22.05 Uhr) die Los Angeles Rams zum Spitzenspiel der NFC West im Lumen Field. Hier entscheidet sich wohl die Division.