Keine vier Spiele sind in der NFL-Saison 2021 gespielt und schon scheint bei den Seattle Seahawks „Alarmstufe rot“ angesagt, oder doch nicht? Nach einer unnötigen und einer vollkommen verdienten Niederlage steht das Team von Head Coach Pete Carroll vor Week 4 mit nur einem Sieg da. Vor dem Hintergrund, dass man in der NFC West und damit in der am besten besetzten Viergruppe der Liga spielt, ist das generell eher suboptimal. Ungünstiger als jetzt könnte die Situation aber mit Blick auf den Spielplan nicht sein. Schließlich wartet in den nächsten zwei Wochen jeweils ein Duell mit einem Divisionsrivalen. Den Anfang machen am Sonntag die San Francisco 49ers.
Wenn die 12s hier auf die letzte Saison zurückblicken, dann könnte sich eigentlich Entspannung einstellen. Schließlich fuhren die Seahawks 2020 in zwei Spielen gegen die Niners zwei Siege ein. Der eine war vollkommen ungefährdet, während der Erfolg im Corona-bedingten „Heimspiel“ der 49ers in Arizona unnötig knapp wurde. Ein ähnliches Szenario dürfte in wenigen Tagen drohen, aber unter anderen Voraussetzungen. So ist Seattles Offense mit einem jetzt vollkommen konzentrierten QB Russell Wilson wieder eine der besten der Liga – wenn man sie denn lässt. Dagegen hat sich die Defense von Coordinator Ken Norton Jr. aktuell in ein noch tieferes Loch gegraben, als in das, aus dem sie sich 2020 in der zweiten Saisonhälfte mühsam heraus gegraben hatte.
Und auch bei den Gastgebern aus San Francisco haben sich die Vorzeichen in dieser Regular Season komplett umgedreht. Aufseiten der Offense hat Head Coach Kyle Shanahan statt eines Backup-Quarterbacks mit QB Jimmy Garoppolo einen erfahren und fitten Starter zu bieten. Doch nicht nur das. Mit Rookie-QB Trey Lance lauert auch eines den vielversprechendsten First Round-Talente der letzten Jahre auf Spielzeit. Prunkstück der 49ers ist dagegen mal wieder die Defense. Nach einer von teilweise unfassbarem Verletzungspech geprägten Spielzeit, gilt hier wieder Vollgas. So wird die Unit um LB Fred Warner auf der Ecke der D-Line wieder durch DE Nick Bosa verstärkt. Zusammen mit DE Arik Armstead und dem Rest der Front Seven dürfte der auch gegen Seattle wieder auf Quarterback-Jagd gehen.
Das Spiel:
- Kickoff: Sonntag, 22.05 Uhr
- Austragungsort: Levi’s Stadium (Freiluft, Naturrasen)
- Wettervorhersage: 22 Grad Celsius, Sonnig
- Schiedsrichter: Carl Cheffers
- Empfang: NFL GamePass
- Wettprognose: Seahawks +2
- Hashtag: #SEAvsSF
Der Injury Report:
Nach einer Woche mit jeweils gut gefüllten Injury Reports, veröffentlichten die Seattle Seahawks am Freitag den „Game Day Status“ ihres Kader. Auffällig dabei: Sowohl RB Rashaad Penny (Wade) als auch OT Brandon Shell (Knöchel) fallen für das Gastspiel in Kalifornien aus. Zweifelhaft ist dazu doch leider der Einsatz von WR Dee Eskridge (Gehirnerschütterung). In die Kategorie „fraglich“ fallen zusätzlich LB Benson Mayowa (Nacken), DE Alton Robinson (Knie) und ganz besonders WR Tyler Lockett (Hüfte). Ebenso unwahrscheinlich dürfte eine Spielteilnahme von TE Gerald Everett sein, der sich weiter auf der Covid-Liste wiederfindet.
Kyle Shanahan und die San Francisco 49ers müssen im ersten Divisionsduell der Saison 2021 mit Seattle definitiv auf die beiden folgenden Spieler verzichten: DT Kevin Givens und RB Ja’Mycal Hasty (beide Knie). Ähnlich wie bei Eskridge aufseiten der Seahawks, ist zudem der Auftritt von RB Elijah Mitchell (Schulter) zweifelhaft. Weiterhin fraglich sind auch die Einsätze von DE Arik Armstead (Adduktoren) sowie von DT Javon Kinlaw und CB Emmanuel Moseley (beide Knie).
Updated #Seahawks Week 4 injury report w/ Friday practice participation: pic.twitter.com/zrSjoLcoUq
— John Boyle (@johnpboyle) October 1, 2021
Die Matchups:
Seahawks-Secondary vs. 49ers-Wide Receiving-Corps: Zu behaupten, dass die Secondary der Seahawks gegen die Vikings Schiffbruch erlitten hat, ist eine ziemlich genaue Beschreibung. Zunächst ließ sich CB D.J. Reed bei zwei Touchdown-Pässen vernaschen und bekam mit 50,0 (aus 100 Punkten) die schlechteste Coverage-Note von Pro Football Focus (PFF) der gesamten Unit. Doch auch FS Quandre Diggs (66,7) und SS Jamal Adams (52,2) sahen, wenn überhaupt, mittelmäßig in Coverage aus. Nickel-CB Ugo Amadi „glänzte“ mit einer absolut unnötigen Holding-Strafe und dann war da noch CB Tre Flowers. Ihn hatte Minnesota als größte Schwachstelle in Seattles Secondary ausgemacht. Die Folge: Laut PFF ließ Flowers bei 40 Coverage-Snaps insgesamt sieben von sieben Pässen in seine Richtung für 78 Yards und vier First Downs zu.
Und genau an dieser Stelle könnte der offensive Game-Plan der 49ers ansetzen. Das Angebot an potenziellen Anspielstationen für Jimmy Garoppolo ist nämlich mehr als reichhaltig. Von den schnellen jungen WR Brandon Aiyuk und Deebo Samuel, über Veteran-WR Mohamed Sanu, Topstar-TE George Kittle und Alleskönner-FB Kyle Juszczyk ist eigentlich alles vorhanden. Gerade diese Variabilität, plus mögliche Einsätze von Trey Lance bei innovativen und Shanahan-typischen unkonventionellen Plays, dürfte es für den Coaching Staff der Seahawks schwer machen, ihre Pass-Defense richtig einzustellen.
Seahawks-Pass Rush vs. 49ers-Offensive Line: Von nichts geht mehr, zu Vollgas. So in etwa entwickelte sich der Pass Rush der Seahawks Mitte der Saison 2020. Zu Beginn der neuen Spielzeit sind die Quarterback-Jäger aus Seattle dagegen schon richtig früh auf Temperatur. Mit sieben Sacks nach drei Spieltagen liegt man im Mittelfeld der Liga. Was dabei allerdings auffällt: In einer in der Breite gut besetzten D-Line aus dem Pacific Northwest, sind es die Youngster, die liefern. So drangen Veteranen wie Jamal Adams oder DE Carlos Dunlap bislang noch gar nicht erfolgreich zum gegnerischen Spielmacher durch. Dagegen teilen DE Alton Robinson und LB Darrell Taylor bislang drei Sacks unter sich auf. Robinson, der bislang nur sehr spärlich eingesetzt wurde, ist mit einer PFF-Note von 92,2 nominell der beste Pass Rusher der Liga! Und das nur knapp vor Taylor, der aktuell mit 90,1 bewertet wird.
Mit ihrer Athletik und ihrer Geschwindigkeit treffen sie am Sonntag allerdings auf eine ganz erfahrene O-Line aus San Francisco. Anker sind hier vor allem C Alex Mack und OT Trent Williams. Zusammen mit den G Daniel Brunskill und Laken Tomlinson sowie OT Mike McGlinchey bilden sie eine Line, die gerade den Running Backs (mehr dazu unten) im Run Blocking immer wieder Löcher reißt. Schwächer ist das Quintett dagegen im Pass Blocking, wo sie den nicht allzu mobilen Jimmy Garoppolo nicht immer lange genug beschützen kann. Insgesamt wurde der Quarterback in drei Spielen fünfmal gesackt. Dabei schneiden gerade die beiden Guards bei PFF nicht gut ab, was den Seahawks die Chance auf den Inside Rush über Robinson oder DT Robert Nkemdiche öffnen könnte.
Seahawks-Run Defense vs. 49ers-Running Backs: Anfang der Saison 2020 war die Defense der Seahawks locker auf Kurs die schlechteste aller Zeiten in der NFL zu werden. Durch die Luft wurden nach drei Spielen 1.292 Passing Yards zugelassen! Im Schnitt also 430,7 Passing Yards pro Spiel. Und während die Coverage löchrig wie ein Sieb war, hielt die Laufverteidigung im gleichen Zeitraum mit nur 200 zugelassenen Yards solide dicht. Ein Jahr später hat sich der Trend umgekehrt. „Dank“ 113 Rushing Yards der Colts, Derrick Henry und – ja – Alexander Mattison stieg die Zahl 2021 auf 465 Yards! Seattles Stärken wie Tackling oder die Running Lanes zu besetzen, scheinen wie weggeblasen. In der Mitte der D-Line halten die DT Poona Ford, Bryan Mone und Al Woods wacker, aber nicht immer konstant die Stellung. Über die Außenbahnen gehen dafür aber immer wieder größte Lücken auf.
Ein Weg, den für die 49ers ausgerechnet zwei Rookies beschreiten könnten. An San Franciscos Running Backs scheint die historische Verletzungsmisere von 2020 nämlich noch nicht vorbeigegangen zu sein: So fallen Raheem Mostert und JaMycal Hasty mit Blessuren aus. Übrig bleiben da noch Eli Mitchell und Trey Sermon. Beide 2021 vom College gekommen und beide im zweiten Saisonspiel ebenfalls kurzzeitig angeschlagen. Dass sie aber auf NFL-Level „laufen“ können, hat vor allem Mitchell zum Saisonauftakt bewiesen. Hier schenkte er Detroit 115 Rushing Yards ein. Zwar ist Seattles Run Defense bei PFF 14 Plätze höher gelistet als die der Lions, doch gerade die Vorstellung von Mattison und den Vikings sollte ein Warnsignal für die Seahawks gewesen sein. In Kombination könnten Sermon und Mitchell sie mit ihrer Dynamik nämlich auch vor Probleme stellen.
Der X-Faktor: Aufholjagd? Nein, danke!
Es war die Magie des Russell Wilson. Egal wie aussichtslos die Situation nach Rückständen schien, der Seahawks-Quarterback hatte immer eine Antwort. Seine Fähigkeit verloren geglaubte Spiele noch umzudrehen, ist jetzt schon legendär. Gefühlt ist das aber lange her. Denn um diese Aufholjagden auf die Beine zu stellen, braucht es eine Defense, die der eigenen Offense mit Druck und guten Plays schnell den Ball besorgen kann. Anno 2021 ist aber genau das in Seattle nicht greifbar. Sprich: Um ein Spiel zu gewinnen, muss eigentlich Wilson mit Touchdowns und der damit verbunden Führung den Takt vorgeben.
Sobald er jedoch in Rückstand gerät, steigt der Druck scoren zu müssen. Und im Fall der Seahawks heißt das im Moment: Vollgas für das Big Play. Doch auf den konstanten Versuch, lange Pässe zu spielen, können sich die Gegner leicht einstellen. Dabei ist der Modus operandi klar: Die Secondary tief abstellen und konstanten Druck über den Pass Rush bringen. Es ist das Kyoptonit der Seahawks-Offense. Deshalb heißt es am Sonntag: Aufholjagd? Nein, danke!
- Spieler des Spiels: Darrell Taylor. Nach einem verletzungsbedingten Jahr Pause ist der Outside Linebacker für die Seahawks auch noch eine Art „Rookie“. Und schon am Anfang seiner ersten vollen Saison, zeigt der, warum Seattle ihn 2020 an 48. Stelle gedraftet hat. Mit seiner explosiven Athletik und atemberaubender Geschwindigkeit, wird Taylor (hoffentlich) auch gegen San Francisco mit drei Sacks und einem forcierten Fumble einschlagen.
- Statistik des Spiels: Vor einer Woche ging es an dieser Stelle noch um den Lieblingsgegner der Seahawks außerhalb ihrer bisherigen Heim-Divisions (AFC West und NFC West). Heute geht es dann passenderweise um den Alltime-Lieblingsgegner und Erzrivalen: die San Francisco 49ers. Mit 28 Siegen seit Gründung der Franchise im Jahr 1976, hat Seattle gegen kein NFL-Team häufiger gewonnen!
- Anekdote des Spiels: 113 Regular Season-Spiele hat Pete Carroll als Head Coach mit den Seattle Seahawks gewonnen. Den ersten Erfolg seiner Amtszeit gab es am 12. September 2010. Vor heimischer Kulisse im damaligen Qwest Field (heute Lumen Field) gewann Carrolls Team 31:6 – gegen die San Francisco 49ers.
Der Hype-Faktor: Was wäre, wenn…
Viele 12s spielen aktuell den Seattle-Blues. Und auch uns fällt jetzt gerade in Sachen Seahawks wenig ein, um gehyped zu sein. Deshalb stellen wir uns an dieser Stelle einfach mal die Frage: Was wäre, wenn … LeBron James am Pudget Sound aufgelaufen wäre? Und nein, es ist kein Scherz! Laut dem „King“ höchstpersönlich war er nicht abgeneigt…
"I still got the jersey too, that Jerry [Jones] and Pete Carroll sent me from 2011."
Imagine LeBron on the Cowboys or Seahawks 😳 @KingJames pic.twitter.com/boMLsl4Jes
— SportsCenter (@SportsCenter) September 28, 2021
Das Fazit:
Ja, wir sind mit der Gesamtsituation unzufrieden. Nach einer vermeidbaren und einer vollkommen verdienten Niederlage kann man den Saisonstart der Seattle Seahawks getrost als Schuss in den Ofen klassifizieren. Und jetzt folgen auch noch zwei Spiele gegen Divisionsrivalen. Bevor es in Santa Clara am Sonntag zum Kickoff kommt, sind hier zwei Dinge klar. Russell Wilson führt wieder eine Elite-Offense in der NFL an. Problem dabei: Gefühlt können die Seahawks dieses Level nur unter Idealbedigungen abrufen. Nämlich dann, wenn man in Führung liegt und die gegnerische Defense wenig Druck ausübt.
Mit Blick auf die Front Seven der 49ers ist es aber nahezu ausgeschlossen, dass Wilson hinter seiner O-Line schalten und walten kann wie er will. Gepaart mit der talentierten und tief besetzten Offense aus San Francisco, die auf eine offenbar an sich zweifelnde und zu sehr mit sich selbst beschäftigte Seahawks-Defense trifft, ist das keine gute Kombination. Entsprechend ernüchternd dürfte die „Geschäftsreise“ am Wochenende in Kalifornien für Pete Carroll und Co. enden.
Prognose: Die Seattle Seahawks verlieren 10:24.