Dr. Ulrich Grünwald (49) ist Oberarzt der Klinik für Unfallchirurgie und Orthopädie fvm Johannes Weßling Klinikum in Minden. In seiner Freizeit engagiert er sich für den American Football in Deutschland. Seit 2000 ist Grünwald Mannschaftsarzt der Jugendnationalmannschaft und seit ungefähr vier Jahren AFVD- und AFCV NRW-Verbandsarzt. Vor der Saison 2015 durfte er die Seattle Seahawks besuchen und den Ärzten und Physiotherapeuten dort bei ihrer täglichen Arbeit über die Schulter schauen. Im ersten Teil des Interviews mit den German Sea Hawkers erzählt Grünwald von der Trainingsanlage, der medizinischen Arbeit bei einem NFL-Team und den Unterschieden zu Deutschland.
Herr Dr. Grünwald, wie kam es dazu, dass Sie im September für ein paar Tage auf dem Trainingsgelände der Seattle Seahawks in Renton, Washington hospitieren durften?
Das habe ich selbst organisiert, mit Hilfe eines NFL-Sponsors. Ganz ohne Hilfe kommt man da nicht ran. Die NFL ist sehr verschlossen, gerade im medizinischen Bereich gewährt sie selten Einblicke. So wie es mir Donald Rich, der leitende Physiotherapeut der Seahawks, erzählt hat, bin ich der erste Europäer, der eine Hospitanz bekommen hat. Ich war in der dritten Septemberwoche 2015 drei Tagen lang auf dem Trainingsgelände – Montag, Dienstag und Mittwoch.
Warum wurden es gerade die Seahawks?
Ich war 1983 als Austauschschüler in Bellevue, einer Vorstadt von Seattle. Dort an der High School bin ich zum American Football gekommen. Bis 2000 habe ich auch in Deutschland gespielt, danach wurde ich direkt Mannschaftsarzt. In Seattle habe ich auch meine Liebe zu den Seahawks entdeckt. Das war damals das erste Jahr, in dem das Team die Playoffs erreicht hat.
Beschreiben Sie Ihren ersten Eindruck von vor Ort!
Ich wurde von einer Repräsentantin von DJO (Anbieter für die Versorgung mit orthopädischen Hilfsmitteln und physikalischer Therapie) abgeholt und musste zunächst den „Türsteher“ am Trainingsgelände in Renton überwinden. Nach der Registrierung hat mich Donald Rich abgeholt. Wir haben dann erstmal einen Rundgang über das Gelände gemacht. Und das ist ein richtiges Areal. Eine Kunstrasenhalle mit Deckenhöhe von geschätzt 40 Metern, ein kleiner Bereich für die Cheerleader. Auch der Kraftraum ist gewaltig, alleine die Auswahl an verschiedenen Gewichten ist riesig. Auf jeder Hantel war das Logo des Teams abgebildet. Beim Rundgang fiel mir auf, dass über jeder Tür das Motto der Seahawks „I’m In“ hing. Anschließend waren wir noch in der Reha-Abteilung und der Physiotherapie. Dort gibt es ein 20 auf 30 Meter großes Ermüdungsbecken mit Gegenstromanlage. Das ist für jemanden, der sich damit auskennt, gigantisch. Hinzu kamen ein zweites Ermüdungsbecken, Waschzuber für die Kältebehandlung, Behandlungsräume, Ultraschallgeräte und eine Röntgenanlage. Die ist für deutsche Verhältnisse eher ungewöhnlich, denn wegen der Strahlung ist das Röntgen in normalen Gebäuden untersagt.
Das waren jetzt die Bereiche hauptsächlich für die Athleten. Welche anderen Bereiche des Seahawks-Geländes durften Sie kennenlernen?
Sehr interessant war der Bereich, in dem das Team das Equipment aufbewahrt. Dieser macht ungefähr 20 bis 30 Prozent des Gebäudes aus. An einer Wand waren alle Schuhtypen aufgereiht, die das Team verwendet, da können sich die Spieler etwas aussuchen. Gleiches gilt für Pads und Helme. Den Bereich muss man sich vorstellen wie eine riesige Lagerhalle mit Werkstatt. Es gibt dort zahlreiche bewegliche Wände, in denen das gesamte Equipment gelagert wird. Im zweiten Stock des Gebäudes befinden sich Büros für die rund 30 Trainer und Räume für Offense, Defense und die Positionsgruppen. Die O- und D-Liner haben spezielle Stühle, sonst würde einiges zu Bruch gehen. Außerdem gibt es eine super ausgestattete Kantine für Frühstück, Mittag- und Abendessen.
Das bedeutet, die Spieler sind von morgens bis abends auf dem Trainingsgelände, nicht nur zu ein bis zwei Trainingseinheiten pro Tag?
Genau, der Spieler muss um 6.30 Uhr da sein. Die medizinische Abteilung ist schon früher da. Nach dem Frühstück ist Training, die erste Einheit ohne Ausrüstung als Walkthrough, aber mit einer Geschwindigkeit, das habe ich noch nie gesehen. Unsereins würde nach fünf Minuten schlapp machen. Beeindruckend ist auch, mit welcher Konzentration das abläuft. Es wird hart gearbeitet und nicht viel diskutiert, die Anspannung ist immer da. Ruhephasen gibt es kaum. Nachmittags ist dann eine zweite Einheit mit Ausrüstung. Und um dieses Gerüst herum kommen regelmäßig Meetings und Behandlungen, Massagen, Rehabilitation.
Durften Sie auch einen Blick in die Umkleidekabine werfen?
Ja, die Umkleidekabine ist wie ein Wohnzimmer. Jeder Spieler hat einen Schrank, in dem er seine Gegenstände aufbewahrt. Mitbringen muss er praktisch nichts. Ansonsten ist dieser Raum ausgestattet mit Teppichboden, Players Lounge, Spielekonsolen, TV. Dazu gibt es Postfächer für die Spieler und das Büro eines Finanzberaters, der sich um alle Belange der Spieler kümmert. Und sogar einen Friseur gibt es, der vor Ort Haare schneidet.
Gehen wir nun in den medizinischen Bereich. Wie läuft das ab, wenn sich ein Spieler verletzt?
Nach einem Spiel ist das gesamte medizinische Personal anwesend und checkt das ganze Team durch. Sollte irgendetwas sein, wird die Behandlung sofort in die Wege geleitet. Wenn sich ein Spieler verletzt, bekommt er einen Rehaplan, den er einhalten muss, denn ansonsten gibt es eine Vertragsstrafe. Deshalb hält sich auch jeder an die Vorgaben.
Wie viele Personen kümmern sich um die Sportler?
Vier fest angestellte Physiotherapeuten sind über das ganze Jahr auf dem Gelände. Hinzu kommen sieben bis acht Physios, die als Honorarkräfte arbeiten. Dann gibt es noch zwei Sportwissenschaftler, vier bis fünf Athletiktrainer, einen Ernährungswissenschaftler, ein eigenes Labor für Bluttests. Es werden Studien durchgeführt, um beispielsweise Verletzungsentwicklungen zu untersuchen. Alles in allem wird ein hoher Aufwand betrieben, um die Spieler fit zu halten. Das ist wenig verwunderlich, beim dem vielen Geld, das in der NFL umgesetzt wird.
Waren Sie in die Behandlung eingebunden?
Ich durfte den Medizinern über die Schulter schauen. Behandeln durfte ich schon alleine deshalb nicht, weil ich keine Zulassung für die USA habe. Mir ging es aber primär auch darum, die Abläufe kennenzulernen, beispielsweise die Versorgung der Spieler in der Reha. Es gibt keinerlei Reibungsverluste, um alles wird sich sofort gekümmert. Mit welcher Effizienz in einer solchen medizinischen Abteilung gearbeitet wird, ist schon beeindruckend.
Was bot für Sie den größten Lerneffekt?
Die Tatsache, dass solch reibungslose Abläufe von der Entdeckung einer Verletzung bis zur vollständigen Ausheilung überhaupt möglich sind. Es ist ein Traum von mir, diese Rahmenbedingungen auch in Deutschland zu schaffen. Was Ärzte und Physiotherapeuten in Seattle an Material zur Verfügung haben, kann man nicht mit Deutschland vergleichen. Ich arbeite in einem Krankenhaus, wo mir permanent die Verwaltung auf den Füßen steht, doch möglichst nicht das teuerste Produkt zu nehmen. Das gibt es in der NFL nicht.
Wo ordnen Sie die medizinische Abteilung der Seattle Seahawks ein?
Ganz oben, die Crème de la Crème von dem was in den USA angeboten wird. Das wird aber in der NFL allgemein der Fall sein. Es ist nur das Beste gut genug. Da steckt viel Geld drin.
Und wenn Sie den Vergleich mit American Football in Deutschland bemühen?
Da kann Deutschland nicht mithalten. In Deutschland wird der medizinische Bereich in vielen Sportarten ein bisschen stiefmütterlich behandelt. Ich muss sehen, wie ich mein Personal zusammenkratze, damit alle Teams medizinisch betreut sind. Selbst die deutschen Fußballvereine können da von den Dimensionen her nicht mithalten. Klar, das liegt mitunter auch an der Kadergröße eines NFL-Teams. Nehmen wir mal ein Beispiel: Wenn die NFL-Teams auf ein Auswärtsspiel gehen, nehmen sie einen Tross von 180 bis 190 Leuten mit. Das ist gewaltig. Und das Material wird in Container verladen, mit dem LKW zum Flieger gebracht, verfrachtet und vor Ort dann entsprechend eingerichtet. Das wäre in Deutschland so undenkbar.
Teil 2 des Interviews mit Dr. Ulrich Grünwald erscheint in den kommenden Wochen. Darin geht es unter anderem um das Business NFL, gesundheitliche Aspekte der Sportart und ein Fazit zur Hospitanz.
Über die Rubrik
„12 Fragen an…“ ist eine Rubrik, in der regelmäßig Interviews unserer Redaktion mit Persönlichkeiten veröffentlicht werden, die in einer Beziehung zur deutschsprachigen Fangemeinde und den Seattle Seahawks stehen. In den Gesprächen geht es um Zusammenhänge zwischen den Interviewpartnern und unserem Lieblingsteam, Erlebnisse und Erfahrungen im American Football und persönliche Geschichten. Alle bisher erschienenen Interviews aus der Serie gibt’s hier zum Nachlesen.