Die No-Fly Zone, zu deutsch Flugverbotszone, ist ein Luftraum, in dem aus militärischen Gründen sämtliche Flugbewegungen von Luftfahrzeugen verboten sind. Die Secondary der Seattle Seahawks war in den vergangenen Jahren dafür bekannt, in ihrem Hoheitsgebiet ein solches Gebiet einzurichten, das es dem Gegner schwer machte, durch die Luft die Endzone zu erreichen. Wenn ein tiefer Ball beim gegnerischen Receiver zu landen drohte, war Free Safety Earl Thomas für das Team aus dem Pacific Northwest als Abfangjäger zur Stelle und unterband den Passversuch. Nach Thomas’ Ausfall jedoch schien das Flugverbot aufgehoben.
4. Dezember 2016: Die Fans der Seattle Seahawks werden dieses Datum mit einem lachenden, aber vor allem mit einem weinenden Auge in Erinnerung behalten. Einerseits konnte man einen klaren 40:7-Erfolg über die Carolina Panthers bejubeln, andererseits musste man jedoch den Verlust von Earl Thomas hinnehmen, der sich bei einer Kollision mit seinem Teamkollegen Kam Chancellor das Bein brach und für den Rest der Saison ausfiel.
Die Verletzung des Free Safety, der aufgrund seiner Schnelligkeit und instinktiven Spielweise zu den Besten seiner Position in der NFL zählt, markierte auch einen Bruch in der Leistung unserer Defense, weshalb es sich lohnt herauszuarbeiten, welche Auswirkungen sein Ausfall auf das Spiel der Defense hatte und wie wichtig Earl Thomas, der von Vielen als das Herz dieser Secondary bezeichnet wird, für dieses Team ist.
Schon in seiner Draft-Klasse galt Thomas als bester Free Safety seines Jahrgangs, weshalb er im Jahr 2010 zurecht bereits als 14. Spieler im NFL Draft von den Seahawks in der ersten Runde ausgewählt wurde. Damals wurde er von Experten als der “most instinctive player“, der Spieler mit dem besten Instinkt, bezeichnet. Dass er einer der Besten ist, wenn es darum geht, einen Spielzug zu lesen und vorauszuahnen, wo der Ball landen wird, stellte Thomas von Anfang an unter Beweis. Auch als Manndecker ist Thomas ein großartiger Verteidiger. So stehen in seiner siebenjährigen Karriere bereits 554 Tackles, 23 Interceptions und neun erzwungene Fumbles zu Buche. Gemeinsam mit Kam Chancellor und Richard Sherman bildet er den Grundstein für die großen Erfolge, die die Seahawks in jüngerer Vergangenheit erzielten und die im Gewinn von Super Bowl XLVIII gipfelten. Thomas ist unbestreitbar ein einzigartiger und – wie sich nach seiner Verletzung zeigte – unersetzbarer Spieler.
Kurz gesagt: Mit seinen beiden kongenialen Teamkollegen bildet er eine der besten Secondarys der NFL. Diese verlor durch Thomas’ Verletzung jedoch deutlich an Abstimmung, als Ersatz Steven Terrell, ein Undrafted Free Agent, einspringen musste.
Durch seine herausragenden Fähigkeiten ist Thomas in der Lage, Big Plays sowohl im Passing- als auch im Running-Game des Gegners zu eliminieren. Bereits in seiner zweiten NFL-Saison im Jahr 2011 war er der Spieler, der die zweitwenigsten Pässe über 20 Yards zuließ. Aufgrund seiner Leistungen wurde er bereits fünfmal in den Pro Bowl gewählt und war viermal First-Team All-Pro (2012–2015).
Mit Earl Thomas auf dem Feld ließ die Seahawks-Defense in der Regular Season bei tiefen Targets über die Mitte in Richtung Thomas nur 14,3% aller Pässe zu, was 3,8 Yards pro Versuch und ein Quarterback-Rating von 13,9 bedeuten. Seit seiner Verletzung wurden jedoch 71,4% tiefer Pässe über die Mitte zugelassen bei 29,4 Yards pro Versuch und einem Quarterback-Rating von 153,3. Die Mitte des Feldes existierte für Receiver kaum, weil Thomas diese beherrschte und viele Big Plays verhinderte – das untermauert diese Statistik. Insgesamt lag das Rating des gegnerischen Quarterbacks in den ersten zwölf Spielen der Saison bei nur 77,9. Ohne Thomas stieg es in den letzten vier Spielen der Regular Season auf 105,0 an.
Allein diese Zahlen belegen, wie drastisch sich die Secondary durch die Verletzung von Thomas verschlechterte. Sie sind aber nicht der einzige Beleg: Vor der Verletzung von Earl Thomas standen zehn Interceptions auf dem Konto der Seahawks-Verteidiger. Danach konnte Seattle in sechs Spielen (inklusive Playoffs) keine einzigen Pick mehr verbuchen, was unterirdisch ist. Während die Defense in der Regular Season nach Woche 13, sprich nach der Verletzung von Thomas, mit nur 17 zugelassenen Punkten pro Spiel noch auf Platz eins unter den NFL-Teams stand, ließ sie anschließend ungewöhnlich viele Punkte zu. Die 10:38-Niederlage gegen die Green Bay Packers war das erste Spiel überhaupt mit über 30 zugelassenen Punkten. Davor waren gegen die Saints (25) am meisten zugelassen worden. In den letzten vier Spielen ließ Seattle im Schnitt 24,5 Punkte zu, im Schnitt 7,5 Punkte mehr als mit Earl Thomas. Nur drei zugelassene Punkte gegen einen schwachen Jared Goff drückten diese Statistik nach unten.
Ohne Thomas ließen die Seahawks erstaunlich viele Big Plays zu. Darunter der 55-Yard Touchdown der Panthers kurz nach der Verletzung, ein 60-Yard Touchdown von Packers-Receiver Devante Adams oder ein 80-Yard Touchdown durch Cardinals-Passempfänger J.J. Nelson. Allein aufgrund von Thomas’ Präsenz und seiner Schnelligkeit vermeiden es Quarterbacks, tiefe Pässe in seine Richtung zu werfen.
Außerdem ist er eine zuverlässige Absicherung für die Cornerbacks und beeinflusst so auch indirekt deren Spiel sowie die Spielausrichtung der Secondary. Mit Thomas als Absicherung können die Cornerbacks etwas „riskanter“ spielen, da sie wissen, dass er Fehler ausbügeln kann. Dies ist einer der Gründe, weshalb den Seahawks seit seiner Abstinenz keine Interception mehr gelang. Die Cornerbacks sind mit Absicherung in der Lage, etwas mehr zu spekulieren, also Routen zu unterlaufen, um eine größere Chance auf eine Interception zu haben. Richard Sherman nahm beispielsweise nach Thomas’ Verletzung eine ganz andere Rolle in der Coverage ein. Anstatt der gewöhnlichen „Press-Coverage“, bei der der Defensive Back dem Receiver an der Line of Scrimmage direkt gegenüber steht, spielte Sherman sehr oft in der sogenannten „Off-Coverage“, bei der sich der DB circa acht bis zehn Yards hinter die Line of Scrimmage stellt und erst einmal abwartet, um Big-Plays zu vermeiden. Neben Shermans Innenbandverletzung, die er, wie nun publik wurde, wohl in der zweiten Saisonhälfte erlitt, ist die passive Deckungsvariante mit ein Grund, weshalb Shermans Gegenspieler öfter als gewöhnlich ins Spiel eingriffen.
Spätestens nach dem Playoff-Spiel in der Divisional Round gegen die Atlanta Falcons, in dem die Seahawks 36 Punkte zuließen, dürfte nun wohl jedem klar sein, wie wichtig Earl Thomas nicht nur für die Defensive sondern insgesamt für die auf eine starke Verteidigung bauenden Seattle Seahawks ist. Während er seit 2010 in jedem Spiel der Seahawks spielen konnte und zum festen Bestandteil der Legion of Boom wurde, fehlte Thomas seinem Team nun zum ersten Mal in seiner Karriere.
Es bleibt zu hoffen, dass er sich bis zum Start der Vorbereitung auf die Saison 2017 von seinem Schienbeinbruch erholt hat, sodass er in der nächsten Spielzeit wieder voll angreifen kann. Denn um einen weiteren Super Bowl zu gewinnen, brauchen die Seattle Seahawks einen erstklassigen Spieler wie Earl Thomas. Einen, der der Secondary Sicherheit gibt, indem er überall zur gleichen Zeit ist, wenn er durchs Backfield patrouilliert.