Eine Liebeserklärung an Russell Wilson

Russell Wilson (Foto: Seattle Seahawks)

Am 15. Dezember 2019 schrieb Russell Wilson Geschichte. Der Quarterback der Seattle Seahawks zog gleich mit Tom Brady als der Spielmacher mit dem meisten Siegen in seinen ersten acht Saisons. Wilson, von dem 12s gewohnt sind, dass er Runde für Runde neue Meilensteine erreicht,, bezwang mit seinem Team an jenem Sonntag, dem 15. Spieltag, die Carolina Panthers und feierte seinen 86. Sieg in der US-amerikanischen Profiliga NFL. Eine Liebeserklärung an den besten Seahawks-Quarterback aller Zeiten.

Was Wilson nicht nur in dieser Saison, sondern in seiner gesamten Karriere geleistet hat, ist wahrlich außergewöhnlich. Wir reden hier über einen Spieler, den die meisten Scouts und Experten als zu klein abgestempelt hatten. Er sei nicht in der Lage, auf NFL-Level zu bestehen. Er sei nur ein System-Quarterback bei den Wisconsin Badgers gewesen. Das ist nur ein Auszug der Einschätzungen vieler Analysten vor dem NFL Draft 2012, obwohl Wilson bei den Badgers die zum damaligen Zeitpunkt statistisch effizienteste Saison eines Division-I-Quarterbacks gespielt hatte.

Was danach kam, ist Geschichte. Wilson erkämpfte sich überraschend gegen den teuren Free-Agency-Zugang Matt Flynn den Stammplatz in Seattle, schaute nie mehr zurück, gewann mit den Seahawks Super Bowl XLVIII und verpasste seit seinem ersten regulären Start in der NFL im September 2012 kein Spiel für die Seahawks (und nur zwei Trainingseinheiten, weil er eng befreundete Teamkollegen in Trauerfällen begleitete).

Doch Wilson ist noch lange nicht dort, wo er hin will. Er wird den Seahawks wahrscheinlich noch viele Jahre erhalten bleiben. Er will wieder Geschichte schreiben. Der 31 Jahre junge Quarterback möchte noch bis 45 weiter in der National Football League spielen – und wem, wenn nicht ihm würde man genau das zutrauen.

Nachdem Wilson 2019/2020 wieder eine herausragende Saison spielte und der Hauptgrund dafür war, dass die Seahawks trotz mäßiger Defensive die Divisional Round erreichten, möchte ich in diesem Artikel noch einmal untermauern, wie wichtig Wilson für Seattle ist und wie gut der Spielmacher im Vergleich mit den anderen NFL-Quarterbacks in dieser Runde war.

Russell Wilsons herausragende Saison 2019 in Zahlen

Zunächst einmal untermauern die nackten Zahlen, dass Russell Wilson in der abgelaufenen Saison hervorragend spielte. Der Quarterback brachte in der Regular Season 2019 341 Pässe an seine Passempfänger und komplettierte dabei 66,1 Prozent seiner Würfe (achtbester Wert unter allen Quarterbacks im Jahr 2019). Mit starken acht Yards pro Passversuch sammelte er insgesamt 4.110 Yards, erlief weitere 342 Yards und war somit für knapp über 70 Prozent des offensiven Outputs der Seahawks verantwortlich. Seine 31 Passing-Touchdowns bedeuteten Platz 3 hinter Jameis Winston und Lamar Jackson, während Seattles Spielmacher jedoch nur fünf Interceptions warf – ein sensationeller Wert. Wilson ist somit der einzige Quarterback in der NFL, der in den vergangenen drei Saisons jeweils mindestens 30 Touchdowns geworfen hat. Er führt die Liste mit den meisten Passing-Touchdowns in den vergangenen drei Spielzeiten mit 100 klar an.

Absurd ist, dass Wilsons Quarterback-Rating von 106,3 im Jahr 2019 nur der drittbeste Wert in seiner Karriere ist. Wenn man dazu noch die unterdurchschnittliche Pass Protection der Seahawks mit einbezieht, wird offensichtlich, wie stark diese Saison von Wilson war. Im Abschlussranking aller Offensive Lines der Regular Season 2019 bei Pro Football Focus (PFF) ist die der Seahawks auf Platz 27 gelistet. In diesen Sphären finden sich fast ausschließlich Angriffsreihen von Teams wieder, die im Jahr 2019 im Schnitt relativ wenig Punkte erzielten, wie die der Dolphins (32.), der Bengals (30.), der Jets (28.) oder der Bears (25.). In dieser Gesamtbewertung wird das Lauf-Blocking mit bewertet.

Betrachtet man nur die Pass Protection, erlaubte die Line der Seahawks bei 26,7 Prozent aller Dropbacks in 2,5 Sekunden oder weniger Druck auf Wilson – der drittschlechteste Wert der NFL. Drew Brees von den New Orleans Saints (5.) oder Aaron Rodgers von den Green Bay Packers (6.) beispielsweise bekamen deutlich mehr Hilfe von ihren O-Lines. Auch die Baltimore Ravens mit dem wahrscheinlichen MVP Lamar Jackson sind im Ranking von PFF weit vorn gelistet (Platz 2).

Apropos MVP: Wenngleich Wilson diese Auszeichnung aufgrund von ein paar schwächeren Spielen gegen Ende der Saison höchstwahrscheinlich nicht gewinnen wird, sehen die Analysten von PFF auf Basis eines datenanalytischen Verfahrens hier Wilson und nicht etwa Lamar Jackson an der Spitze der Rangliste. Nach dem von PFF entwickelten Messinstrument „PFF WAR“ (WAR = Wins above Replacement) ist Wilson der wertvollste Spieler der abgelaufenen Regular Season. Durch dieses Verfahren wird im Prinzip gemessen, wie viele Siege ein Spieler seinem Team gegenüber einem generalisierten Ersatzspieler gibt.

Mit einem „PFF WAR“-Wert von 4,08 lag Wilson klar vor dem in dieser Kategorie zweitplatzierten Patrick Mahomes, der einen Wert von 2,96 erzielte. Lamar Jackson wird mit 2,29 bewertet (Platz 5).

 

Wilson wird auch deshalb von manchen Experten als der eigentliche MVP betrachtet, weil er im Vergleich zu anderen Quarterbacks schwierigere Umstände als diese hatte. Hauptsächlich die bereits angesprochene schwache Offensive Line hat hiermit zu tun. Die durchschnittliche Note für für einen der Beschützer von Wilson lag über die Saison gesehen bei nur 56,3/100 Punkten. Zum Vergleich: Die Ravens hatten keinen einzigen Offensive Lineman mit einer Bewertung unter 63/100 Punkten. Das soll keineswegs die herausragende Saison von Jackson abschwächen. Es soll nur aufzeigen, dass Wilson trotz schwieriger Umstände in der Regular Season so überragend performte.

Obwohl neun Quarterbacks in dieser Saison mehr Dropbacks als Wilson hatten, führte er die Liga in der Kategorie „Big-Time Throws“ an – mit sechs mehr als jeder andere Passgeber. Gleichzeitig hatte lediglich Lamar Jackson (9) weniger „Turnover-Worthy Plays“ (Spielzüge, in denen ein Ballverlust wahrscheinlich ist) als Wilson (11) – bei 153 Passversuchen weniger.

Natürlich kann selbst PFF nicht alle möglichen Daten, die in eine solche Bewertung einfließen, erfassen. Das Statistikunternehmen zeichnet aber trotzdem ein gutes Bild von Wilsons Leistung im Jahr 2019. Russell Wilson war auch in der abgelaufenen Spielzeit wieder ein absoluter Game Changer für Seattle.

Russell Wilsons hervorragende Postseason

Auch in den Playoffs der Saison 2019 zeigte Wilson wieder eine überragende Leistung. Bei aller Freude darüber ist es aber auch bedrückend für Seahawks-Fans, wie gut Wilson spielte und dass es trotzdem nicht für mehr in den diesjährigen Playoffs reichte. Seine Postseason-Auftritte im Januar 2020 und jene in seiner Rookie-Saison 2012 gehören zu den besten, die je ein Quarterback in der PFF-Ära (2006-heute) hatte.

Ausblick

Viele 12s halten 2019 aufgrund des schlechten Spiel-Managements und des fragwürdigen Play Callings für ein weiteres verschwendetes Jahr von Russell Wilsons Blütezeit. Ich finde, dass an diesem Argument etwas dran ist. Ich wünsche mir auch, dass Seattle mit einem Top-3-Quarterback wie Wilson vierte Versuche wesentlich aggressiver ausspielt und dass die Trainer ihn öfter bei den frühen Downs passen lassen. Die Zahlen sprechen eine klare Sprache. Die Seahawks berauben sich hier ihrer eigenen (und größten) Stärke.

Russell Wilson wird auch in den kommenden Jahren die wichtigste Person innerhalb der Franchise sein und wenn der Trainerstab nicht gewillt oder in der Lage ist, den Quarterback effizienter einzusetzen, muss ernsthaft darüber nachgedacht werden, ob Pete Carroll mit seiner extrem konservativen Football-Philosophie noch der richtige Trainer für Seattle ist.

Doch die Welt ist auch hier nicht schwarz und weiß. Denn was ist per Definition eine erfolgreiche Saison, die die besten Jahre von Wilson nicht „verschwendet“? Ein Super-Bowl-Sieg? Das Erreichen der Divisional Round? Das Erreichen der Playoffs? Klar ist, dass mit Wilson ein tiefer Playoff-Run immer möglich ist. Wilson gibt Seattle eine so hohe Ausgangsbasis, dass für die Seahawks ein positiver Record jedes Jahr möglich ist.

Doch American Football ist ein Teamsport und keine Ein-Mann-Show. Eine Mannschaft, die einen Super Bowl gewinnen möchte, braucht auch eine zumindest solide Defensive. Diese hatte Seattle 2019 nicht. Sollten Seahawks-Fans ihr Lieblingsteam am Maßstab New England Patriots messen, die in den vergangenen Jahren fast immer im Super Bowl standen? Oder sollten die 12s nicht lieber akzeptieren, dass ein seriöser Anlauf auf den Titel – geschweige denn ein Sieg – unheimlich schwierig ist? Zwischen Tom Bradys drittem und vierten Super-Bowl-Sieg lagen zehn (!) Jahre. Aaron Rodgers erreichte nur einen einziges Endspiel. Drew Brees führt seit Beginn seiner Zeit bei den New Orleans Saints Jahr für Jahr eine der besten Offensiven der NFL an. Trotzdem konnte er den Super Bowl in seiner Karriere nur einmal erreichen und gewinnen.

Es gibt neben Wilson, der in bereits zwei Super Bowls stand, schlicht noch mehrere weitere Top-Quarterbacks, die unter Umständen einen besseren Kader um sich herum haben als der Seahawks-Spielmacher. Daher war Seattle auch in der vergangenen Saison kein Titelfavorit. Eine Prognose, die sich zum Leidwesen der Fans dann auch bestätigte.

Aber: Mit Russell Wilson unter Vertrag und massenweise Spielraum unter der Gehaltsobergrenze (Salary Cap) können die Seahawks in der Free Agency und im NFL Draft in dieser Offseason nach ihrem kleinen Rebuild ein noch besseres Team zusammenstellen und einen erneuten Anlauf auf den Super Bowl starten. Die Chance, im nächsten Jahr den ganz großen Wurf zu schaffen, ist zwar wie für jedes der 32 NFL-Teams recht klein, doch solange Wilson für Seattle spielt ist sie auch größer als für die meisten anderen Teams der Liga.

Seattles Fans jedenfalls können nicht nur aufgrund der abermals herausragenden Saison von Wilson dankbar sein für den besten Quarterback ihrer 43-jährigen Franchise-Geschichte. Es ist gut möglich, dass die Seahawks nie wieder einen so guten Spielmacher haben werden, deshalb kann man sich als 12 nur glücklich schätzen, die Zeit zu erleben, in der Wilson für das Team aus dem Pacific Northwest spielt.

Abschließend bleibt mir nur eines zu sagen: Danke, Russell Wilson. Du bist mein absoluter Lieblingssportler. Nicht nur sportlich, sondern auch menschlich. Auf und neben dem Platz bist Du ein herausragendes Vorbild. Wie Du Mitmenschen behandelst, wie Du allen Respekt entgegenbringst, wie Du professionelles Verhalten vorlebst.

Wir Fans können da aktuell die Karriere eines zukünftigen First-Ballot-Hall-of-Fame-Quarterbacks bestaunen, der für unser Lieblingsteam spielt. Appreciate it!

Neben dem Feld ist er bereits jetzt eine Legende: