Ken Norton Jr. (Foto: imago)
Fischadleraugen: Die Base im Lackmustest
Nachdem es vergangene Woche um die Offensive der Seattle Seahawks ging, ist nun die (Base-)Defensive dran. Die Verteidigungsreihen, geführt von Defensive Coordinator Ken Norton Jr., waren über die gesamte Saison gesehen ein Problem. Um mit einigen – oft verschmähten – Total Stats zur ersten Einordnung aufzuwarten: Die Seahawks ließen 381 Yards pro Spiel zu (Platz 26 im Ligavergleich) und erlaubten dem Gegner im Schnitt 24,9 Punkte (Platz 22). Man will sich nicht ausmalen, wie desolat die Defensive ausgesehen hätte, wären Seattle nicht die drittmeisten Ballgewinne der NFL (32 in Summe, aufgeteilt in 16 Interceptions und 16 Fumbles) gelungen.
Gründe für die schwache Performance waren dabei vielfältig und wurden gebetsmühlenartig wiederholt. Die Hauptkritik bezog sich auf das Festhalten an der starren Base-Defense (drei Linebacker in einem Cover-3-Schema statt einen weiteren Cornerback aufzubieten) und den über weite Teile der Saison kaum vorhandenen Pass Rush. Pro Football Focus benotet den Seahawks-Pass-Rush mit 61,8/100 Punkten und damit auf einem geteilten 29. Platz mit den Detroit Lions. Oder um die Sacks-Statistiken zu bemühen: Die Seahawks rangierten hier mit 28 Sacks auf Rang 29 – nur die Miami Dolphins hatten mit 23 Sacks weniger auf dem Konto.
Vor der Besprechung einzelner Szene folgt hier nun zunächst etwas Theorie, um zu zeigen, aus welcher Grundformation heraus Seattles Defensive agiert. Die Seahawks spielen den Großteil der Snaps mit einer Cover-3-Formation und einem sogenannten Single High Safety. Diese Rolle füllt seit seinem Trade-Wechsel Quandre Diggs aus. Diggs‘ Aufgabe ist dabei, die Mitte des Feldes zu decken oder von Seitenlinie zu Seitenlinie die Cornerbacks zu unterstützen. Die beiden Außenverteidiger, Shaquill Griffin und Tre Flowers, decken derweil die äußeren Zonen des Feldes. Jeder der drei Verteidiger deckt damit ein Drittel des Feldes. Die Zonen sind hier gelb markiert. Die drei Linebacker und der Strong Safety, Bradley McDougald, sind alle nah an der Line of Scrimmage platziert. Die Defense Line ist mit einem Vier-Mann-Rush aufgestellt. Deswegen spricht man auch von einer 4-3 (4 D-Liner, 3 Linebacker)-Defensive.
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— Inside Zone (@InsideSeahawks) January 30, 2020
Die roten Zonen, unterteilt in Flat und Seam, sind die Schwachstellen einer Cover-3-Formation.
Die Flat befindet sich zehn Yards hinter der Line of Scrimmage, außerhalb der Hash-Markierungen und wird von der Seitenlinie begrenzt. Geht ein Cornerback hier mit dem Wide Receiver mit, ist die Verteidigung anfällig gegen Curl-, Comeback- und Stop-Routen. Bei der Curl-Route läuft der Receiver bis zu einem bestimmten Punkt, dann kommt er nach innen dem Quarterback entgegen. Die Comeback-Route ist eine einfache Go-Route, die dann aber abgebrochen wird und ein Stück in die entgegengesetzte Richtung fortgesetzt wird. Bei der Stop-Route wird eine Go-Route gelaufen, der Spieler stoppt diese aber abrupt ab und dreht sich dann in Richtung des Quarterbacks, der den Ball im Idealfall direkt bei der Drehung des Receivers an den Mann bringt.
Die Seam-Zone beschreibt die Bereiche in Zonenverteidigungen zwischen zwei oder mehreren Zonen, die nicht explizit von einem Verteidiger abgedeckt werden. Man spricht hier von den Schwachstellen der Verteidigung. Findet ein Wide Receiver eine dieser Nahtstellen, hat er im Normalfall (sollte keine Manndeckung gespielt werden) leichtes Spiel, den Ball zu fangen. Wichtig ist hierbei auch, dass der Receiver die Verteidigung richtig liest und im Bestfall genau zwischen den Zonen beispielsweise eines Linebackers und eines Safetys unterwegs ist, da dort der Gegenspieler von Zone zu Zone übergeben wird. Genau im Moment der Übergabe muss dann der Pass des Quarterbacks kommen.
Im folgenden Video sehen wir eine der Schwächen der Base-Formation der Seahawks. Die Minnesota Vikings kreieren hier mit der Nummer 33, ihrem Running Back Dalvin Cook, ein Mismatch gegen Seattles Linebacker Bobby Wagner. Cook stellt sich zuerst außen auf, geht dann in Motion und nimmt bei diesem Play die Rolle eines Slot-Receivers ein. Er täuscht aus dem Slot heraus einen Slant an und zieht dann nach außen. Wagner, als Linebacker hier in der Coverage zuständig, kann das Tempo von Cook nicht mitgehen. Hier würde ein beweglicherer, dritter Außenverteidiger, der sogenannte Nickel (oder Slot)-Cornerback, Abhilfe schaffen, um zumindest die Chance, den Spielzug zu verhindern, zu erhöhen.
Completion in der Flat. #Seahawks pic.twitter.com/sNfQnsU1Z8
— Inside Zone (@InsideSeahawks) January 31, 2020
Die Seahawks kommen im oberen Video mit einem Fünf-Mann-Rush auf den Gegner zu. Dafür lässt sich Shaquem Griffin eigentlich in der Rolle als Pass Rusher nach dem Snap in Coverage fallen und K.J. Wright versucht, Druck auf den Quarterback aufzubauen. Außerdem blitzt aus dem Hinterfeld ein Defensive Back, der erst unterhalb von Shaquill Griffin aufgestellt ist und den Tight End deckt, mit einem Corner-Blitz Vikings-Quarterback Kirk Cousins. Cousins trifft hier die einzig richtige Entscheidung, indem er den Ball schnell los wird und in die Richtung wirft, aus der der Druck von Wright kommt, denn hinter dem Verteidiger hat sich eine Lücke aufgetan.
Die Szene ist ein Paradebeispiel für die Anfälligkeit in der Flat-Zone bei einer Cover-3-Aufstellung. Die Seahawks werden mit einem kurzen, schnellen Pass entblößt, der Running Back der Vikings kann den Ball leicht und unbedrängt fangen. Wie man in der Szene auch sieht, geschieht die Übergabe des Gegenspielers nicht flüssig: Auch wenn Wagner Probleme bei der Deckung Cooks hat, so hätten Wagner und Flowers auch im Laufe des Spielzugs (sofern hier keine Manndeckung vom Defensive Coordinator angesagt wurde) die Gegenspieler fließend in den Zonen übergeben können.
Completion in der Seam. #Seahawks pic.twitter.com/hFT83ny1zg
— Inside Zone (@InsideSeahawks) January 31, 2020
Hier nun eine Szene aus Woche 1 im Heimspiel gegen die Cincinnati Bengals. Die Seahawks versuchen Quarterback Andy Dalton mit einem Blitz aus dem Linebacker-Level, erneut durch K.J. Wright, unter Druck zu setzen. Die Nummer 87 der Bengals, Tight End C.J. Uzomah, läuft hier genau in die zweite Schwachstelle, die Seam. Safety McDougald versucht, den Gegenspieler in der Flat zu decken. Bei diesem Play ist es wahrscheinlich, dass Cornerback Tre Flowers für Uzomah zuständig ist. Dieser liest aber, wie bereits angedeutet, hervorragend den Raum zwischen den einzelnen Zonen in der Verteidigung. Er kann trotz des nicht präzisen Anspiels von Dalton einen großen Raumgewinn erzielen.
Der Lerneffekt aus den beiden Beispielen? Die Seahawks hatten große Probleme im Vier-Mann-Rush, wurden dann aber, sobald sie per Blitz mehr Druck bringen wollten, von Quarterbacks gegen den Blitz geschlagen. Durch den zusätzlichen Rusher ergaben sich Freiräume hinter der Line of Scrimmage, die Gegner dann nutzten Außerdem hatte Seattle die gesamte Saison lang Probleme, sowohl Running Backs als auch Tight Ends zu covern. Immer wieder wurde das Team auf diese Weise attackiert, vornehmlich über die Flats und Seams. Die Kritik an der starren Cover-3-Formation lässt sich anhand der gezeigten Szenen illustrieren.
Abschließend muss man wohl zu der Erkenntnis kommen, dass die Seahawks nicht nur schematische Probleme und eine starre Ausrichtung hatten, sondern es ihnen auch einfach Talent auf dieser Seite des Balles fehlte. Ohne Defensive End Jadeveon Clowney möchte man sich den Pass Rush über die gesamte Saison nicht vorstellen. Der Verteidigungslinie fehlte es schlicht an Talent. In die Kritik muss man hier aber auch die Trainer nehmen: Mangelndes Talent könnte man zu einem gewissen Grad durch geschickteres Play Calling und und kreative Blitz-Pakete kaschieren.
Den Seahawks fehlte 2019 neben Shaquill Griffin ein zweiter Cornerback, der wirklich verlässlich ein Drittel des Feldes, zur Not auch ohne Unterstützung eines Safetys, abdecken kann. Ob Tre Flowers nur im „Sophomore Slump“ (das verflixte zweite Jahr) steckte oder er einfach nicht genug Klasse für diese Aufgabe mitbringt, das wird vermutlich das nächste Jahr zeigen. Apropos Cornerback: Ein Grund für das häufige Aufstellen von drei Linebackern war wohl, dass sowohl Carroll als auch Norton die drei das Gespann aus Wright, Wagner und Kendricks für die von der absoluten Leistungsstärke her alternativlose Variante hielten.
Ein weiterer Grund: Kein Cornerback überzeugte scheinbar die Trainer als Nickel-Cornerback so, dass er dauerhaft in die Startformation rücken durfte. Das Versprechen für die Zukunft ist hier Ugochukwu Amadi, der in den Special Teams eine herausragende Saison spielte und auch als Slot-Verteidiger schon gute Ansätze zeigte, die mit ein wenig mehr Mut und Risikobereitschaft der Trainer für die Nickel-Startaufstellung gereicht hätten.
Spielzug des Jahres
Trotz aller Kritik an der Seahawks-Defense gibt es auch auf dieser Seite des Balles einen Spielzug des Jahres: Der erste Karriere-Sack von Shaquem Griffin war ein emotionaler Höhepunkt, der fast in Seattles Comeback-Sieg in den Playoffs bei den Green Bay Packers gemündet wäre.
Griffin-Sack. #Seahawks pic.twitter.com/4J7HBwnrly
— Inside Zone (@InsideSeahawks) January 15, 2020
Griffins Rolle ab etwa Mitte der Saison war die des Speed Rushers. Er wurde vor allem bei 3rd & Long als Defensive End aufgestellt. Waren seine ersten Versuche, zum Quarterback zu gelangen, noch recht stumpf, verbesserte sich Griffin stetig. Von Woche zu Woche war zu erkennen, wie er sich steigerte, Pressures erzeugte und in seiner zweiten Saison in diese neue Rolle hineinfand.
Wie kam der Sack in diesem Spielzug zustande? Griffin startet außen auf der linken Defensive-End-Position. Er läuft dann aber einen Stunt nach innen, auf den die Offensive Line der Packers nicht schnell genug reagieren kann. Der Right Guard doppelt gemeinsam mit dem Right Tackle – unbeabsichtigt – Defensive Tackle Jarran Reed. Griffin kann nun die Lücke in der Mitte nutzen und befindet sich auf dem direkten Weg zum Quarterback.
Sein Bruder Shaquill hat in der Szene die Aufgabe, aus der Secondary zu blitzen – der sogenannte Corner-Blitz. Hierbei stellt sich der Cornerback erst auf, als würde er wie gewohnt in der Deckung verbleiben. Nach dem Snap sucht aber auch er den direkten Weg zum Quarterback. Ein anderer Spieler übernimmt seine Zone. In diesem Play lässt sich Safety Bradley McDougald in Griffins Zone fallen. Und getreu dem Motto „Triff mich beim Quarterback!“ erreichen die Zwillinge fast zum gleichen Zeitpunkt Aaron Rodgers. Sie stoppen den Drive der Packers und geben der Offensive die Chance, das Spiel endgültig zu drehen.
Dieser Spielzug, zu dem Zeitpunkt enorm wichtig und ein Highlight der Saison zeigt, dass bestimmte Probleme grundsätzlich durch Kreativität gelöst werden können. Und dass die Seahawks-Defensive sich nicht bei jedem Blitz in der Saison 2019 schlagen hat lassen.