23:17. Vier Zahlen, die für eines der spektakulärsten Spiele in der Franchise-Geschichte der Seattle Seahawks stehen. Seit Richard Sherman am 19. Januar 2014 seine Fingerspitzen in den Nachthimmel von Seattle streckte und damit die Titelträume der San Francisco 49ers beendete, ist viel passiert. Der Cornerback selbst beispielsweise hat die Seiten gewechselt, wenn die zwei Teams zur Primetime bei Sunday Night Football aufeinandertreffen. Die Niners wurden von sechs Quarterbacks angeführt, während in Seattle weiterhin Russell Wilson das Spiel dirigiert. Seattle gewann von elf Aufeinandertreffen zehn. Und San Francisco wanderte einmal Richtung Tabellenende in der NFC West und zurück an die Spitze, ehe es nun endlich wieder zu einem Duell der zwei Rivalen auf Augenhöhe kommt.
13:27. Die gleichen Zahlen in anderer Reihenfolge: Sie stehen für weniger gute Gefühle – in Zusammenhang mit der Heimniederlage der Seahawks gegen die Arizona Cardinals in Woche 16. In einem der wichtigsten Spiele der Saison zeigte das Team von Head Coach Pete Carroll bis auf wenige Ausnahmen gegen eine der schwächsten Mannschaften der NFC nicht nur eine beinahe unterirdische Leistung. Nein. Um vor dem entscheidenden NFC-West-Gipfel gegen die 49ers noch mehr Salz in die Wunde zu streuen, beschloss der Footballgott auch noch, Seattles ohnehin schon überfülltes Lazarett mit wochen- und monatelangen Ausfällen der Running Backs Chris Carson und C.J. Prosise und des Left Tackles Duane Brown endgültig zum Überlaufen zu bringen. Eine bittere Situation, die die Seahawks in Angesicht dessen, was am Sonntag im letzten aller 256 Regular-Season-Spiele der NFL-Saison 2019 gegen den großen Rivalen aus Kalifornien auf dem Spiel steht, verzweifeln lassen könnte.
Für San Francisco sieht das Bild hingegen anders aus. Nach einem 34:31-Sieg in letzter Sekunde gegen die Los Angeles Rams hat das Team von Head Coach Kyle Shanahan einen direkten Weg Richtung optimale Playoff-Startposition vor sich: Ein Sieg im Pacific Northwest sichert Platz 1 in der NFC und damit eine Bye Week in der Wild-Card Round und Heimrecht bis vor dem Super Bowl. Für die Seahawks ist die Ausgangslage deutlich komplexer:
- Gewinnen Russell Wilson und Co. den Showdown an der US-Westküste, dann sichern sie sich den NFC-West-Titel. Für welchen Rang das schließlich in der Endabrechnung der NFC reichen würde, hängt von den Ergebnissen der Spiele Green Bay Packers gegen Detroit Lions und New Orleans Saints gegen Carolina Panthers ab, die schon früher am Sonntag stattfinden. Verlieren sowohl die Packers als auch die Saints, dann holt Seattle sich den ersten Seed in der NFC.
- Ein Heimsieg der Hawks gegen die Niners würde im Falle einer Niederlage von Green Bay und eines gleichzeitigen Erfolgs der Saints für Seattle nach Woche 17 den zweiten Seed in der NFC und damit eine Bye Week in der ersten Playoff-Runde sowie mindestens ein Heimspiel in der Divisional Round bedeuten.
- Gewinnen alle drei Teams: Seattle, Green Bay und New Orleans, dann stünden die Seahawks bei einer Bilanz von 12-4 und das Duo aus Wisconsin und Louisiana bei 13-3. Das würde den dritten Seed in der Conference und damit ein Heimspiel in der Wild-Card Round gegen die Minnesota Vikings bedeuten.
- Verlieren die Seahawks gegen San Francisco, dann reicht es am Ende immerhin noch für den fünften Seed und damit zu einem Auftritt in der Wild-Card Round beim Sieger der NFC East, also entweder in Philadelphia bei den Eagles oder in Dallas bei den Cowboys.
Das Spiel:
- Kickoff ist am Montagmorgen um 2.20 Uhr deutscher Zeit.
- Austragungsort ist das CenturyLink Field in Seattle, Washington (68.740 Plätze).
- Übertragen wird die Partie per NFL GamePass (jetzt zum Sonderpreis Zugang bis 31. Juli 2020 sichern) und auf DAZN.
- Schnellcheck: San Francisco 49ers
Injury Report:
Left Tackle Duane Brown (Meniskus) steht aufgrund seiner Meniskus-Operation frühesten in zwei Wochen wieder zur Verfügung. Ebenfalls nahm Safety Quandre Diggs (Sprunggelenk) bislang nicht am Training teil und wird wohl nur einen Einsatz riskieren, wenn es um Platz 1 oder 2 in der Conference geht. Es gliche einem Wunder, wenn er spielen könnte, sagte Head Coach Pete Carroll am Freitag. Sicher ausfallen wird neben Brown auch Wide Receiver Malik Turner (Gehirnerschütterung). Es ist deshalb davon auszugehen, dass Rookie John Ursua am Sonntag aktiv sein wird.
Große Teile der Starting-O-Line trainierten unter der Woche nur eingeschränkt, fraglich ist aber am Spieltag nur Guard Ethan Pocic (Rumpf). Defensive End Jadeveon Clowney (Rumpf), Linebacker Mychal Kendricks und Cornerback Shaquill Griffin (beide Oberschenkel) absolvierten Teile der Einheiten – und alle drei Stammspieler sind nicht auf dem abschließenden Injury Report zu finden. Clowney bestätigte am Donnerstag, dass ihn nichts und niemand von einem Einsatz in Week 17 abhalten könne.
Über Weihnachten war bei San Francisco der Einsatz von Safety Tarvarius Moore (Gehirnerschütterung) unklar, obwohl er voll mittrainierte. Ebenfalls unklar sind die Einsatzchancen von Strong Safety Jaquiski Tartt (Rippen). Definitiv ausfallen wird D-Liner Jullian Taylor, der sich im Training schwer am Kreuzband verletzte.
Der Injury Report für Week 17: pic.twitter.com/CctAOCoEjA
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) December 28, 2019
Die Matchups:
Seahawks-RBs Marshawn Lynch und Robert Turbin vs. 49ers-Front-Seven: Vor Woche 14 schwebte man in Seattle in Sachen Running Backs noch auf Wolke sieben. Mit Chris Carson und Rashaad Penny hatten die Seahawks aufseiten ihrer Ballträger einen One-Two-Punch, der in der NFL zu den besseren Läufer-Duos zählte. Carson hatte seine zweite 1.000-Yard-Saison in Folge zu geknackt und Penny schien endlich seine Rolle im Team gefunden zu haben.
Drei Wochen später sieht es genau hier aber ganz düster aus. Für beide ist die Saison nach einer angebrochenen Hüfte und einem Kreuzbandriss noch vor den Playoffs gelaufen. Und weil sich dann auch noch C.J. Prosise mit einem gebrochenen Arm Richtung Injured-Reserve-Liste verabschiedete, blieb am vergangenen Sonntag plötzlich nur noch ein fitter Running Back: Rookie Travis Homer (Saison: acht Läufe für 52 Yards).
Grund genug für General Manager John Schneider, in die Retro-Kiste zu greifen und alles auf die Karte „Beast Mode“ zu setzen – wortwörtlich. Mit der Unterschrift von Marshawn Lynch wurde den 12s ein vorweihnachtliches Geschenk gemacht, das bei aller berechtigten Euphorie, eine Wundertüte sein dürfte. Ohne Frage kann Lynch dem gesamten Team in der Umkleidekabine und auf dem Feld und den Fans auf den Rängen des CenturyLink Field mental einen emotionalen Schub geben. Was Nummer 24 auf dem Platz bringen kann, ist aus mehreren Gründen fraglich. 1) Hinter dieser O-Line zu laufen, kann keine Freude sein und tut weh – das dürfte spätestens seit vergangenen Sonntag feststehen. 2) Der Running Back hatte vor seiner Rückkehr nach Seattle acht Tage intensiv mit einem Personal Trainer gearbeitet. Sein letztes Spiel bestritt er für die Oakland Raiders gegen die Cleveland Browns in Woche 6 der Saison 2018. Seine letzte Saison mit über 1.000 Yards liegt fünf Jahre zurück. (Auch Robert Turbin, der mit den Seahawks den Super Bowl 48 gewann, dürfte ein wenig eingerostet sein. Er hat zuletzt in Week 2 der vergangenen Runde für die Indianapolis Colts gespielt.)
Diesem Aufgebot steht am Sonntagabend (Ortszeit) die Defense der 49ers gegenüber. Pro Spiel hat die zweitbeste Verteidigung der NFL in dieser Saison im Schnitt nur 277,4 Yards erlaubt. Die Laufverteidigung von Defensive Coordiantor Robert Saleh lässt zwar mit 4,5 Yards pro Versuch noch vergleichsweise viel zu, trotzdem verfügt das System über ein Prunkstück: die Verteidigungslinie. In vorderster Front jagen die D-Liner DeForest Buckner, Arik Armstead und „Defensive Rookie of the Year“-Kandidat Nick Bosa nicht nur äußerst erfolgreich gegnerische Quarterbacks. Zusammen mit den Linebackern Fred Warner und Dre Greenlaw werden sie versuchen, Beast Mode und den aus Pete Carrolls Sicht überlebenswichtigen Laufangriff der Seahawks direkt an der Line of Scrimmage zu stoppen.
Seahawks-Linebacker vs. 49ers-TE George Kittle: Gepaart mit einem variablen Laufspiel runden die Passempfänger um die Wide Receiver Emanuel Sanders und Debo Samuel San Franciscos starke Offensive optimal ab. Das größte Mosaikstück, das den Angriff der Niners aber noch gefährlicher macht, heißt George Kittle. Der Tight End ist nach seiner Verletzungspause wieder der Mann, der den Unterschied für die sechsbeste Abteilung Attacke der NFL (379,9 Yards und 21,2 Punkte pro Spiel) macht. Im Hinspiel gegen die Seahawks fehlte der beste Nicht-Quarterback der Liga noch.
Kittle wird hier von Kyle Shanahan vielseitig eingesetzt. Neben der ein oder anderen tiefen Route wird der Pro Bowler aber besonders gerne mit Tight-End-Screen-Pässen und auf kurzen Slant-Routen gefüttert. Hier kann Kittle dann seine physische Stärke als Läufer ausspielen und damit naturgemäß das Talent der Linebacker der Seahawks auf die Probe stellen. Die Gruppe ist mit Bobby Wagner, K.J. Wright und Mychal Kendricks in Seattle sehr stark besetzt. In der von Defensive Coordiantor Ken Norton Jr. bevorzugten Base-Formation mit drei Linebackern ist das Trio damit besonders gefordert. Während Wagner eher das Laufspiel verteidigt und mit 152 Tackles die NFL mal wieder anführt, sind Kendricks und Wright meist in der Passverteidigung eingespannt. In der Deckungsarbeit haben beide in dieser Spielzeit allerdings schon den ein oder anderen Aussetzer gehabt, die sie sich gerade gegen George Kittle nicht leisten dürfen.
Seahawks-D-Line vs. 49ers-QB Jimmy Garoppolo: In Woche 10 bekamen die 12s genau das zu sehen, was sich die Seahawks von Jadeveon Clowney erwarteten, als die Seahawks ihn kurz vor dem Beginn der Regular Season für eine Spottpreis per Trade aus Houston holten. Einen Pass Rusher, wie er im Buche steht. Gegen die 49ers im Levis Stadium lieferte der Defensive End ab: ein aufgenommener und zum Touchdown retournierter Fumble, ein forcierter Fumble, fünf Solo-Tackles, ein Sack und jede Menge Druck auf Jimmy Garoppolo. In seinem Windschatten machte die D-Line um Jarran Reed, Poona Ford und immer stärker werdenden Rasheem Green vielleicht ihr bestes Saisonspiel.
Mit einer Note von 88,8/100 bei Pro Football Focus (PFF) ist Clowney Seattles bester Verteidiger diese Saison. Das Problem: Neben Nummer 90 fehlten in den vergangenen zwei Wochen mit Safety Quandre Diggs (87,8/100 bei PFF) und Cornerback Shaquill Griffin (81,8/100 bei PFF) der zweit- und drittbeste Spieler aufseiten der Defensive der Seahawks. Entsprechend zahnlos agierte nicht nur die gesamte Gruppe, sondern besonders die auf gute Deckungsarbeit angewiesene D-Line. Das ernüchternde Ergebnis zuletzt: null Sacks gegen Arizona. Dabei ist es ausgerechnet dieser Druck, der San Franciscos 100-Millionen-Dollar-Quarterback so zu schaffen macht. So brachten es die 49ers im Heimspiel gegen Clowney und Co. im Passpiel bei PFF auf eine Note von 43,0/100 – der mit Abstand schlechteste Wert in einer sonst großartigen Saison. Was passiert, wenn Garoppolo entspannt in der Pocket stehen kann, durften die Los Angeles Rams in Woche 16 erfahren. Im letzten Drive standen die Niners zweimal bei einem dritten Versuch über 16 Yards und damit kurz vor einem Punt. Doch in beiden Fällen fand der Spielmacher nahezu unbedrängt seine Receiver für je ein First Down und brachte sein Team am Ende so in gewinnbringende Field-Goal-Reichweite.
X-Faktor Russell Wilson: Russell Wilson einfach Russell Wilson sein lassen – das fordern die NFL-Experten in den USA und hierzulande seit Jahren von Pete Carroll und seinen Offensive Coordinators. Nicht umsonst wird der bestbezahlte Spieler und beste Deep Passer der Liga auch Houdini genannt. Denn wenn er darf, dann ist er wirklich magisch. Doch genau diese Magie ist seit Woche 10, als Wilson noch der Nummer-eins-Anwärter auf den MVP-Titel war, etwas abhanden gekommen. Gegen die 49ers, die Philadelphia Eagles (Woche 12) und die Arizona Cardinals (Woche 16) hatte Seattles Denker und Lenker laut Pro Football Focus seine drei schlechtesten Saisonspiele.
Problematisch: In diesen Spielen kassierten Wilson und die O-Line insgesamt 13 Sacks. Ändern könnte sich das aber im NFC-West-Gipfel am Sonntag aus einem Grund: Dem Fragezeichen hinter dem Laufspiel. Keiner kann vorhersagen, wie gut sich Rookie Travis Homer, Robert Turbin und Marshawn Lynch trotz des Hypes um besonders Letzteren schlagen werden. Die einzige Konstante heißt in dem Fall eben Russell Wilson. Mit einer soliden Pass Protection vor sich könnte Wilson zum X-Factor werden und den Abend im CenturyLink Field zu einer magischen Nacht werden lassen.
Fazit:
Im Showdown mit den San Francisco 49ers ist für die Seattle Seahawks vor allem eines angesagt: realistisch bleiben. Denn auf dem Papier sind die Verhältnisse klar. Die Niners rollen mit einer talentierten und vor allem gesunden (so gesund wie eben zu diesem Zeitpunkt der Saison geht) Mannschaft sowie innovativem Coaching durch die letzten Wochen der Saison. Seattle auf der anderen Seite hat zuletzt einen Rückschlag nach dem anderen kassiert – sei es in Form von Verletzungen oder von schmerzhaften Niederlagen. Teils haarsträubende Trainerentscheidungen waren in diesen Situationen nicht förderlich.
Gerade auf der O-Line- und Running Back-Position dürfte der Aderlass für ein Team, dessen Philosophie vor allem auf einem kraftvollen Laufspiel basiert, einfach zu groß sein, um gegen die Niners mitzuhalten. Zu einem erneuten Sieg gegen den großen NFC-West-Rivalen fehlt Pete Carroll ein fittes Team, ein progressiverer Ansatz bei Play Calling und Game Management sowie aktuell auch ein Quarterback in überragender Form.
Da hilft realistisch gesehen auch das hunderttausendfache Stoßgebet der 12s auf ein neues Beastquake – gegen das wie gegen einen Sieg und die Rückkehr von MVP-Wilson gewiss nichts einzuwenden ist – nicht.
Prognose: Die Seahawks verlieren mit 10:24 gegen San Francisco und müssen die Playoffs in der Wild-Card Round und mit einem Auswärtsspiel beginnen.