Auch am Tag nach dem sensationellen Comeback-Sieg der Seattle Seahawks über die Green Bay Packers im NFC Championship Game ist noch schwer in Worte zu fassen, was an diesem historischen Abend im CenturyLink Field passiert ist. Mit seinem einzigen Catch des Abends machte Wide Receiver Jermaine Kearse in der Overtime den 28:22-Erfolg perfekt – anschließend kannte der Jubel keine Grenzen mehr.
Incredible. pic.twitter.com/53El5oXADY
— Neil Paine (@Neil_Paine) 18. Januar 2015
Es war ein Spiel der Extreme, dass wir gestern Abend erleben durften. Wir gingen lange davon aus, dass das alles nur ein Traum ist. Dann sind wir aufgewacht und die Seahawks stehen als Super Bowl-Teilnehmer fest. Manche Dinge sind einfach nicht logisch zu erklären. Wir wollen es dennoch versuchen.
Die Seahawks zeigten Charakter, leisteten Widerstand, gaben niemals auf, kämpften für ihre Mitspieler, zweifelten nicht, widersprachen ihren Kritikern. Kurz, sie wollten den Sieg einfach mehr als ihre Gegenspieler.
Defense:
Man muss einfach mit der Defense anfangen, denn ohne sie wären die Seahawks wohl zur schon Halbzeit nicht mehr in der Lage gewesen, das Spiel noch zu drehen. Erst im vierten Anlauf schafften es die Packers im 1. Quarter in die Endzone. In den vorhergegangenen drei Drives wurde Quarterback Aaron Rodgers von Cornerback Richard Sherman intercepted und die Green Bay-Offense bei zwei weiteren Redzone-Möglichkeiten gestoppt (jeweils nur FG).
So stand es zur Halbzeitpause nur 0:16, weil die Seahawks nur ein weiteres Field Goal zuließen und Byron Maxwell für Rodgers‘ zweite Interception sorgte. In sieben Drives schafften die offensivstarken Packers trotz wenig Pass Rush-Druck auf Rodgers nur einen Touchdown – die Seattle-Defense spielte abgesehen von ein paar Penalties (Offside Bennett, Pass Interference Maxwell, Illegal use of the Hands Avril) in Bestform. Mit hoher Wahrscheinlichkeit wäre der Rückstand deutlich geringer gewesen, hätten sich die Strafen in Grenzen gehalten.
Da sich Seattle diesbezüglich im weiteren Spielverlauf steigerte, lässt sich auch erklären, dass Green Bay nach dem 1. Viertel im gesamten Spiel nicht mehr die Redzone erreichte.
Nach der Pause geriet auch Rodgers endlich unter Druck, Defensive End Cliff Avril sorgte für den ersten Sack, die Packers wurden endlich konsequent zum Punten gezwungen und erzielten nur noch zwei Field Goals. Dies machte in der 2. Halbzeit den Weg frei für eine historische Aufholjagd.
It is what it is. You play for teammates. (Richard Sherman)
Der unbändige Wille, die Begegnung noch zu drehen, zeigte sich besonders am Auftreten von Free Safety Earl Thomas (Schulter) und Richard Sherman (Ellbogen). Beide verletzten sich – beide kamen zurück und spielten die Partie mit Schmerzen bis zum glorreichen Ende.
Offense:
Quarterback Russell Wilson stand nach Spielende tränenüberströmt bei Fox-Reporterin Erin Andrews (die vor genau einem Jahr auch das Richard Sherman-Interview geführt hatte). Er konnte seine Emotionen nicht mehr zurückhalten, nachdem er gerade ein Wechselbad der Gefühle durchlebt hatte.
Wilsons Arbeitstag begann extrem holprig, das änderte sich für den Großteil der Partie nicht. Erst, als im 2. Quarter noch sieben Minuten zu spielen waren, schaffte Seattle das erste 1st Down – und zwar durch Running Back Marshawn Lynch. Durch die Luft lief über weite Strecken nichts zusammen. Im ersten Drive fing Green Bay einen auf Jermaine Kearse geworfenen und von diesem abgefälschten Ball ab, in Drive fünf warf Wilson mitten in Double Coverage, Kearse hatte keine Chance, an den Ball zu kommen. Beim Versuch, den Interception Return zu stoppen, kassierte Wilson einen bösen Blind Side Hit von Packers-Linebacker Clay Matthews, der mit Sicherheit einige Quarterbacks komplett aus dem Spiel genommen hätte. Der Seahawks-QB aber schüttelte sich kurz und schien unversehrt. Dennoch warf er einen weiteren Pick. Der dritte ging direkt im darauffolgenden Anlauf ebenfalls in Richtung Nummer 15. Kearse hatte erneut nicht den Hauch einer Chance, den Ball zu fangen. Ein überhasteter Versuch, endlich Punkte zu machen.
Oft musste Wilson die zusammenfallende Pocket verlassen, um ein Play am Leben zu halten. Daraus resultierten in Halbzeit eins oft Incompletions und Punts. Auch das Running Game bekam von der O-Line zunächst kaum Unterstützung. Marshawn Lynch und Robert Turbin konnten kaum Raumgewinn erzielen.
Es dauerte bis zum neunten Drive, als die Seahawks endlich punkteten – und zwar per Fake-Field Goal (siehe Special Teams). Vorhergegangen war eine so typische improvisierte Wilson-Baldwin-Connection, wie sie in wichtigen Situationen oft kommt. Bei 3rd & 19 riskierte Wilson den langen Pass auf Wide Receiver Doug Baldwin, der ihn zum 1st Down aus der Luft pflückte und damit den Grundstein für erste Punkte legte.
Russell Wilson had a 0.0 passer rating in the first half. It was a perfect 158.4 in overtime. — John Boyle (@johnpboyle) 19. Januar 2015
Als Wilson mit noch etwa fünf Minuten auf der Uhr seine vierte Interception warf (ähnlich wie die erste, abgeprallter Ball), glaubten viele nicht mehr an die Wende. Doch die Seahawks bekamen den Ball schnell zurück (3 & Out GB) und marschierten nun gegen passive Packers (die kein Risiko mehr eingehen wollten) endlich das Feld hinunter. Marshawn Lynch und Russell Wilson trugen das Team auf ihren Rücken bis in die Endzone, abgeschlossen mit einer Read-Option aus dem Lehrbuch – TD Wilson.
Anschließend wurde es surreal. Per Onside Kick Recovery bekam Seattle den Ball direkt zurück und hatte mit knapp über zwei Minuten auf der Uhr sein Schicksal selbst in der Hand. Erneut übernahmen Wilson, Lynch und Baldwin die Verantwortung und führten ihr Team in die Endzone. Auf Lynchs 24 Yard-Touchdown folgte die wohl unglaublichste Two-Point Conversion in der Seahawks-Geschichte. Russell Wilson warf den Ball verfolgt von mehreren Verteidigern unter Druck über grob 25 Yards diagonal über das Feld, wo Tight End Luke Willson am Rand der Endzone wartete und den Drei-Punkte-Vorsprung sicherte.
In der Overtime war zunächst das Glück Seattle hold. Backup-QB Tavaris Jackson „eroberte“ den Seahawks den ersten Ballbesitz. Was dann geschah, kann man sich nicht schöner ausdenken. Jermaine Kearse – zuvor ohne Catch, ohne Fortune und ohne den Respekt der Medien – gewann sein Eins-gegen-eins-Duell und hatte gegen Green Bays Cover 0 freie Bahn in die Endzone:
Aus. Ende. Vorbei.
Special Teams:
Mal ganz ehrlich, Punter Jon Ryan war schon immer der heimliche Star dieses Teams. Der Kanadier ist urkomisch (auf Twitter und im realen Leben), verlässlich und eine Bereicherung für die Seahawks. Und am Sonntagabend wurde er zum Symbol des Aufbruchs, als er Mitte des 3. Quarters Rookie-Offensive Tackle Gary Gilliam, den ehemaligen Penn State-Tight End, bei einem Fake-Field Goal-Versuch per Pass bediente und Seattle aufs Scoreboard brachte. Eine richtig coole Socke, dieser Jon Ryan.
St. Louis Rams-Head Coach Jeff Fisher ist auf der Suche nach seinem Play Book.
Der Fake-Spielzug war am Montag eingeführt und während der Woche immer wieder geübt worden. Jedes Mal, wenn Ryan im Training an Head Coach Pete Carroll vorbeilief, sagte der Punter nur zwei Worte: „Call it.“ Carroll kam diesem Wunsch nach.
Ein Lob geht auch an zwei weitere Special Teamer: Kicker Steven Hauschka, der den Onside Kick perfekt ausführte und Wide Receiver Chris Matthews, der den Ball sicherte und den Seahawks eine letzte Chance auf den Sieg ermöglichte.
Doch nicht alles lief rund bei den Special Teams. Doug Baldwin war für die Kick Returns zuständig und verlor direkt nach der 3:0-Führung der Packers den Ball tief in der eigenen Hälfte. Und das, obwohl Baldwin zu den drei Spielern gehört, die bei über 200 Ballberührungen in dieser Saison noch nicht gefumbled haben. Insgesamt machte er an diesem Tag bei Kickoffs keine gute Figur, die Coverage von Green Bay ließ kaum Raum für Returns.
Injury Report:
Drei Seahawks-Spieler verletzten sich in der Partie gegen Green Bay, doch alle drei bissen sich durch und spielten bis zum Ende. Earl Thomas zog sich früh in der Partie eine Blessur an der linken Schulter zu, musste in den Locker Room, kehrte aber dann zurück und führte seine Tackles weiterhin mit hohem Tempo durch, ohne Rücksicht auf den eigenen Körper.
Richard Sherman überstreckte sich bei einem Tackle von Kam Chancellor an Packers-RB John Starks das linke Ellbogen-Gelenk so sehr, dass er seinen Arm nicht mehr bewegen konnte. Der All-Pro blieb dennoch auf dem Feld und verteidigte seinen Gegenspieler fortan nur noch mit einer Hand. Auf die Frage, ob er im Super Bowl spielen könne, antwortete er: „Mein Arm müsste schon abfallen, damit ich den Super Bowl verpasse.“
Right Guard J.R. Sweezy verletzte sich im Gerangel am Fuß, weil ihm ein anderer Spieler von hinten in die Beine fiel. Wie Thomas und Sherman sollte auch er in zwei Wochen wieder einsatzbereit sein.
Fazit:
We’re going to the Super Bowl, again! Die Charakterstärke hat den Seahawks zu ihrer zweiten Finalteilnahme in Serie (dritten insgesamt) verholfen. Am 1. Februar warten in Glendale, Arizona die New England Patriots. Dann werden die Karten neu gemischt. Bis dahin bleibt Zeit, das erlebte zu verarbeiten, neue Kraft zu tanken, gesund zu werden und sich vorzubereiten. Damit aus den Seattle Seahawks die nächste große NFL-Dynastie wird.
Die Calls von Seahawks-Radiokommentator Steve Raible nochmals zum Nachhören gibt es auf Soundcloud.
Beitragsbild von Gordon Currie – Graphic Designer.