Die Seattle Seahawks haben den Sprung auf Platz eins in der NFC verpasst. Im Sunday-Night-Football-Duell bei den Los Angeles Rams unterlagen sie hochverdient mit 12:28. Das Team aus dem Pacific Northwest rutscht damit wieder auf einen der zwei Wild-Card-Plätze in der Conference und auch in der NFC West wieder hinter die San Francisco 49ers zurück. Vorerst.
Es lief am frühen Montagmorgen nicht viel für die Seahawks im Los Angeles Memorial Coliseum. Weder die Offense noch die Defense erweckten den Eindruck, als könnten sie dem Spiel die entscheidende Wendung geben. Fangsicherheit, Kommunikation, Pass Protection, Strafen (8 für 64 Yards), Pass Rush (0 Sacks, 4 Quarterback-Hits), situatives Coaching – in all diesen Bereichen machte Seattle einen Rückschritt.
Positiv:
RB Chris Carson: Der Running Back war mit acht Läufen für 49 Yards (6,1 Yards pro Lauf) der einzige Lichtblick der ersten Halbzeit (insgesamt am Ende 15 Carries, 76 Yards, 5,1 Yards pro Lauf). Außerdem knackte er früh im Spiel die 1,000 Lauf-Yards in der Saison, zum zweiten Mal nacheinander. Damit ist er der sechste Seahawks-Läufer überhaupt, dem das gelingt und der erste seit Marshawn Lynch 2013 und 2014. Ja, das steht hier wirklich so ausführlich, denn arg viele positive Aspekte sind dem Autor ansonsten nicht eingefallen.
LB Bobby Wagner & LB K.J. Wright: Herzlichen Glückwunsch dem unwiderstehlichen Linebacker-Tandem zum 100. gemeinsamen Spiel von Beginn an. Ja, auch das steht hier, weil dem Autor nichts besseres einfiel. Als kleines Schmankerl gibt’s hier noch ein Foto von Wagner aus seiner High-School-Zeit in Kalifornien, als er Basketball gegen den heutigen NBA-Star Kawhi Leonard spielte.
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— Lydia Cruz (@TheLydiaCruz) December 9, 2019
FS Quandre Diggs: Der Neuzugang riss sein Team in der zweiten Halbzeit mit und sorgte mit seinen Aktionen für einen Hoffnungsschimmer. Innerhalb kurzer Zeit fing er zwei Pässe von Rams-Quarterback Jared Goff ab. Den ersten trug er in die gegnerische Endzone – Touchdown. Den zweiten holte er kurz vor der eigenen aus der Luft – quasi ein guter Punt für Los Angeles. Mehr als ein kurzes Lebenszeichen der Defense waren die zwei Aktionen von Diggs jedoch nicht.
Ein Sonderlob geht bei der ersten Interception an Edge Rusher Shaquem Griffin, der Goff so unter Druck setzte, dass dieser eine überhastete Entscheidung traf und unpräzise warf.
UND DER DRUCK KAM VON WEM?
QUEM!!! pic.twitter.com/jp939PpUgK
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) December 9, 2019
Neutral:
QB Russell Wilson: Neben Chris Carson und Wide Receiver DK Metcalf (6 Receptions, 78 Yards und eine Strafe für eine dumme Schubserei mit Rams-Cornerback Jalen Ramsey) war Wilson wohl einer der wenigen Akteure der Offensive in Normalform. Aber seine Bilanz von 22/36, 245 Yards durch die Luft sowie 28 Yards aus fünf Läufen reichte eben nicht, um den Totalausfall des restlichen Kaders zu kompensieren. Auch Nummer-eins-Receiver Tyler Lockett blieb nach überstandener Schienbeinverletzung und Grippe noch größtenteils unauffällig.
Erstmals nach 16 Spielen in Serie mit mindestens einem Touchdown-Pass (inklusive Playoffs) blieb Wilson am Montagmorgen wieder ohne erfolgreichen Pass in die Endzone. Außerdem warf er in jedem der vergangenen vier Spiele eine Interception. Für den MVP-Titel wird das gegen einen weiterhin auftrumpfenden Lamar Jackson von den Baltimore Ravens nicht reichen.
Special Teams: Ein geblocktes Field Goal, durchweg ordentliche Punt-Coverage (besonders Ugo Amadi) sowie ein geretteter Muffed Punt David Moores (durch Ugo Amadi) waren erfreulich, aber eben nicht ausschlaggebend. Dennoch fragt man sich so langsam, was Amadi eigentlich noch alles tun muss in den Special Teams, um mal eine Chance auf Nickel-Cornerback zu bekommen.
Negativ:
Offensive: Bis Mitte des vierten Viertels erzielten die Seahawks keinen Offensiv-Touchdown. Die gruselige Bilanz von Kickoff bis Auslaufen der Uhr: Field Goal, Punt, Turnover on Downs, Punt, Ende der ersten Halbzeit, Punt, Punt, Punt, Field Goal, Interception.
Ein altbekanntes Bild: Russell Wilson fehlte aufgrund einer löchrigen und mit der D-Line der Rams um Defensive Tackle Aaron Donald völlig überforderten O-Line (5 Sacks, 11 Quarterback-Hits) meist die Zeit für den präzisen Wurf, doch wenn er sie mal hatte, waren seine Receiver-Optionen von den Rams-Defensive-Backs oft hervorragend bewacht.
Defensive: Eine erste Halbzeit zum Abwinken. Das Trikot von Jared Goff sah nach der ersten Halbzeit noch so aus wie vor Spielbeginn. Seattle ließ einen maximal durchschnittlichen Spielmacher aussehen wie einen Elite-Quarterback. Von der D-Line kam kein Druck, der Goff in überhastete Entscheidungen hätte zwingen können. Die Secondary wirkte verunsichert und machte Fehler in der Absprache. Und insgesamt lief die Verteidigung der No-Huddle-Offensive der Rams meist hinterher und waren mehr mit dem Luft holen als mit dem Verteidigen beschäftigt.
Dass die Seahawks ohne Starting-Linebacker Mychal Kendricks und gegen das extrem agile Receiver-Dreigestirn Woods, Kupp, Cooks trotzdem noch an der starren Base-Formation festhielten, ist schwer nachvollziehbar. Das soll auch keine Kritik an Rookie-Linebacker Cody Barton sein, der unter anderem einen Pass blockte, doch die Nickel-Formation, beispielsweise mit Ugochukwu Amadi, wäre eine Option gewesen, die den Druck von der Secondary genommen hätte. In der zweiten Halbzeit reagierten die Trainer und setzten teilweise Akeem King und Lano Hill in Sub-Formationen ein, um den flinken Rams-Passempfängern beizukommen, doch es sollte an diesem Tag nicht sein.
Ein Vorwurf muss hier auch sein, dass die Seahawks-Trainer – allen voran Head Coach Pete Carroll und Defensive Coordinator Ken Norton – es wieder einmal nicht geschafft haben, die immer gleichen Konzepte von Rams-Cheftrainer Sean McVay zu verteidigen. Sweeps, Rollouts und Play Action funktionierten die ganze Nacht lang wunderbar für Los Angeles. Ja, Seattle hatte einen Tag weniger Vorbereitungszeit. Ja, die Seahawks trainierten an keinem Tag in dieser Woche voll. Ja, die wichtigsten Pass Rusher mussten im Training pausieren. Aber nein, so darf sich Seattle dennoch nicht herspielen lassen.
Play Calling bei Fourth Down: Es ist jede Woche wieder eine Freude! An der eigenen 34 entschieden sich die Seahawks mit ein paar Zentimetern bis zum neuen First Down beim vierten Versuch für den Punt. Keine drei Minuten später waren die Rams ohne jede Mühe wieder zurück an den Ausgangspunkt des Punts spaziert. Wieso nicht mal den viert… ach, vergessen wir das.
Oooder ist doch noch nicht alle Hoffnung verloren? Der ausgespielte vierte Versuch auf Wide Receiver Malik Turner (fallengelassener Pass) an der gegnerischen 24 Mitte des zweiten Viertels war die richtige Entscheidung, jedoch mit ungünstigem Ausgang. Hoffentlich führt der Drop nicht dazu, dass Seattles Verantwortliche hier die falschen Schlüsse ziehen und weiter extrem konservativ denken.
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— Computer Cowboy (@benbbaldwin) December 9, 2019
Drops und andere Ungeschicke: Zuerst Turner beim wichtigen vierten Versuch, dann Tight End Jacob Hollister bei Third & 7 – alleine in der ersten Halbzeit kosteten zwei fallen gelassene Bälle Russell Wilson und die Seahawks neue First Downs. Neuzugang Josh Gordon glänzte danach zweimal als Schlittschuhläufer, als er sich auf dem durch den Regen vor Spielbeginn feuchten Naturrasen im LA Memorial Coliseum unfreiwillig auf den Hosenboden setzte, während Pässe von Wilson in seine Richtung flogen.
Verletzungen:
Die Seahawks mussten ohne Linebacker Mychal Kendricks (Oberschenkel), Defensive End Ziggy Ansah (Nacken) und Tight End Luke Willson (Oberschenkel) verzichten, die allesamt den Fitnesstest zwei Stunden vor Kickoff nicht bestanden. Running Back Rashaad Penny überstreckte bei einem Lauf nach Screen-Pass sein linkes Kniegelenk und krümmte sich anschließend vor Schmerzen am Boden. Er kehrte nicht zurück – und sollten sich die schlimmsten Befürchtungen bestätigen, ist seine Saison vorbei. Pete Carroll sprach nach dem Spiel von einer ernsten Verletzung am vorderen Kreuzband („ACL Sprain“; mindestens schwere Dehnung, möglicherweise Teilanriss oder kompletter Riss), konnte aber noch keine Details nennen.
Fazit:
Möglicherweise war das ein Weckruf zur richtigen Zeit. Getragen von einer Welle der Euphorie (und des Glücks) siegten die Seattle Seahawks zuletzt fünfmal in Serie, unter anderem auch gegen Mitfavoriten. Die 12:28-Klatsche dürfte das Team zurück auf den Boden der Tatsachen geholt haben und die Spieler nun daran erinnern, dass in dieser Saison – durchweg knappe – Siege nur drin sind, wenn mindestens ein Mannschaftsteil (Special Teams mal ausgenommen) überzeugt.
Die perfekte Auswärtsbilanz mag futsch sein. Platz eins in der NFC West und einer der vorderen Plätze in der Conference sind es vorerst auch. Aber was haben die Seahawks außer einem Spiel verloren? Ganz generell werden sie von vielen Experten aufgrund ausschließlich knapper Siege bislang nicht für voll genommen – und die dürften sich jetzt bestätigt sehen.
Dennoch: Die Seahawks haben auch mit einem Record von 10-3 noch alles selbst in der Hand. Dabei ist natürlich vorausgesetzt, dass sie sich um 100 Prozent steigern. Zwei Siege gegen die Carolina Panthers und die Arizona Cardinals und alles ist bereit für den großen Division-Showdown gegen die San Francisco 49ers in Week 17, der Seattle auch noch den Heimvorteil und ein First-Round Bye sichern könnte.