Wenn Russell Wilson keinen hervorragenden Tag hat, können die Seattle Seahawks nicht gewinnen. Das zeigte sich am Sonntag beim Heimspiel im CenturyLink Field gegen die Baltimore Ravens. Die etwas zu deutliche 16:30-Niederlage gegen das neue Team von Safety Earl Thomas offenbarte, dass Seattle extrem abhängig ist von seinem Quarterback und ohne seine Genialität veraltete Spielideen des Trainerstabs nicht kaschieren kann.
Als in einer von den Statistiken her recht ausgeglichenen Partie dann individuelle Fehler hinzukamen wie der Fumble von Wide Receiver DK Metcalf, falsche Entscheidungen von Head Coach Pete Carroll oder Russell Wilsons erste Interception der Saison verbunden mit einem Pick Six, wurde die Begegnung mit den Ravens und ihrem wendigen Spielmacher Lamar Jackson zu einer bitteren Lehrstunde und zur zweiten Niederlage der Saison (erneut gegen ein Team mit klar positivem Record). Neuer Record der Seahawks: 5-2.
Positiv:
Liebe: Liebeliebeliebe. <3
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— Baltimore Ravens (@Ravens) October 21, 2019
WR Tyler Lockett: Russell Wilson und Tyler Lockett, das passt einfach. Die Konstante im Passspiel der Seahawks saisonübergreifend ist die Verbindung zwischen Wilson und seinem Nummer-eins-Receiver. Am Sonntag sorgte diese für fünf Receptions, 61 Yards und Seattles einzigen Touchdown. Als Duo sind die beiden Veterans einfach magisch.
QB Russell Wilson, University of Hogwarts
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WR Tyler Lockett, University of Hogwarts
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magische Verbindung 🧙♂️ pic.twitter.com/0cso6QO0CK
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) October 20, 2019
CB Tre Flowers: Ein gutes Spiel vom Cornerback und ehemaligen Safety in seinem zweiten Jahr. Flowers flog durch die Gegend, um Pässe abzuwehren und positionierte sich gut zum Tackling, um schwergewichtige Tight Ends niederzustrecken. Dass die Secondary-Kollegen Marquise Blair und Shaquill Griffin nicht negativ auffielen, ist ein gutes Zeichen – vor allem der für den verletzten Bradley McDougald eingesetzte Rookie überzeugte mit sicheren Tackles und einem verteidigten Pass. Wirklich viel getestet wurden sie aber beide von der lauflastigen Offensive der Ravens nicht. Als Lauf-Stopper wären Griffin und Blair am Sonntag öfter gefragt gewesen, da sie wohl noch am ehesten mit Jackson hätten mithalten können. Doch der Ravens-Quarterback war so clever, schnelle Gegenspieler zu vermeiden indem er gezielt dann lief, wenn die Seahawks in der Secondary Manndeckung spielten und die Cornerbacks mit dem Rücken zum Quarterback positioniert waren.
Neutral:
QB Russell Wilson: Russell Wilson und Regenwetter, das passt einfach nicht. Wie in der Vergangenheit schon tat sich der Quarterback bei Nässe schwer und brachte nur 20 von 41 Pässen für 241 Yards und einen Touchdown an seine Mitspieler. Hinzu kam seine erste Interception – folgenschwer, weil vom neuen Ravens-Cornerback Marcus Peters direkt zum Touchdown in die Endzone getragen. Wer sich an Week 5 erinnert, wird wissen, dass Wilson da den noch in Diensten der Los Angeles Rams stehenden Peters mit Pässen mehrfach bloßstellte. Diesmal gab’s die Revanche.
Lamar Jackson war mit neun von 20 angebrachten Pässen übrigens nicht viel besser, machte aber als Läufer den Unterschied. Und Stichwort Unterschied: Den machten wohl auch die acht Quarterback-Hits, die Wilson kassierte. Auf der Gegenseite bekam Lamar Jackson nur einen einzigen Hit ab – wohl auch, weil er allem Druck wieselflink entfloh.
S Tedric Thompson: Im offenen Feld ist T2 oft ein Risiko. Mit Bradley McDougald neben sich konnten die Seahawks das stets ganz gut kaschieren und die Aufgaben der zwei Safetys geschickt verteilen, doch am Sonntag ohne McDougald und stattdessen mit Marquise Blair in einer Rolle als Lauf-Stopper musste Thompson mehr Aufgaben in der Feldmitte übernehmen und wurde als schwacher Manndecker von einem nicht mehr als durchschnittlichen Passer mehrfach enttarnt.
Negativ:
Front Seven: Lamar Jackson schlug die Seahawks mit seinen Beinen. Nein, Bobby Wagner (13 Tackles, sieben davon solo) war als Verteidiger gegen Jackson nicht schlecht, sondern Jackson einfach verdammt gut. Über 100 Yards am Boden für Baltimores Spielmacher sprechen für sich – und womöglich nicht gerade für Seattles Verteidigung als Einheit. Dass Jackson schwer zu stoppen und nicht ganz auszuschalten sein würde, war von vornherein klar. Doch der Quarterback tänzelte trotz Problemen mit dem Schuhwerk auf dem nassen Kunstrasen einfach durch die Front Seven der Seahawks – und gewann so das Spiel für sein Team.
Dass von der Front Seven zu wenig Druck ausgeht, ist nicht erst seit Week 7 ein Problem. Außer Neuzugang Jadeveon Clowney strahlt kaum ein D-Liner permanent Gefahr aus – und Clowney kann nicht der Spieler sein, der den halb so schweren und doppelt so schnellen Jackson stoppen soll.
K Jason Myers: Eine Kicker-Krise schreibt man ungern herbei, aber die Leistungen von Jason Myers in den vergangenen Wochen sind besorgniserregend. Ein vergurktes Field Goal gegen die Los Angeles Rams in Week 5, ein verschossener PAT in Week 6 gegen die Cleveland Browns und nun wieder ein Miss beim Field-Goal-Versuch – die Fehler häufen sich (der Fehlschuss in Week 2 gegen die Pittsburgh Steelers ist da noch nicht eingerechnet).
Es wäre schön, wenn Pete Carroll hier mal den Mut zeigen würde, einen vierten Versuch in der gegnerischen Hälfte auszuspielen, gerade wenn dem Kicker das Glück und Selbstvertrauen fehlt und das Wetter einen Einfluss auf die Kicks hat. Dass das sinnvoll ist und klappen kann, bewiesen die Ravens im dritten Quarter beim Touchdown-Lauf von Lamar Jackson. Baltimore hat übrigens in Person von Justin Tucker den besten Kicker der Liga und geht trotzdem immer wieder Risiko bei 4th & Short.
Seahawks 4th & 3: attempt 53 yard field goal
Ravens 4th & 2: go for it, touchdown
Coaching matters
— Computer Cowboy (@benbbaldwin) October 20, 2019
Pass-Interference-Challenge: Und wenn wir schon bei Kritik am Coaching sind, dann darf dieser Aspekt nicht fehlen. Von 44 Videobeweisen bei Pass Interference führten in dieser Saison bislang nur sieben zur Revision einer Entscheidung. Trotzdem versucht es Carroll immer wieder, auch in scheinbar aussichtslosen Situationen. Das kann er natürlich tun, sollte er aber mehrfach überdenken, wenn er nur noch ein Timeout zur Verfügung hat. Wenn der Head Coach dann nach dem Spiel bei der Pressekonferenz zugibt, die Challenge sei ein Akt der Verzweiflung gewesen, muss man sich doch fragen, wie der Entscheidungsprozess der Seahawks bei möglichen Challenges aussieht? Scheinbar gilt hier noch des Cheftrainers letztes Wort, auch wenn Kollegen aus dem Trainerstab am Bildschirm oder von der Tribüne aus Situationen womöglich besser beurteilen können.
Verletzungen:
Weder Defensive End Ziggy Ansah (Sprunggelenk) noch Safety Bradley McDougald (Rücken) waren bis Spielbeginn fit genug, um aufzulaufen. Erwartungsgemäß pausierte auch Left Tackle Duane Brown (Bizeps). Right Guard D.J. Fluker war zwar einsatzbereit, wurde in der Angriffslinie aber von Jamarco Jones ersetzt. Neue Verletzungen waren kurz nach Spielende nicht bekannt.
Fazit:
Die Quarterback-Position machte am Sonntag den Unterschied. Lamar Jackson tat auf dem Feld als Läufer, was er wollte und kaschierte damit die drei Drops von Tight End Mark Andrews und die vielen Strafen (acht für 75 Yards zu nur zwei für 18 Yards für die Seahawks) der Baltimore Ravens. Russell Wilson war erstmals nicht bester Spieler seines Teams und kaschierte deshalb auch nicht die Fehler, die an anderen Stellen gemacht wurden. Dass der Tag kommen würde, an dem Wilson mal nicht in MVP-Form sein würde, war so vorhersehbar wie der nächste Lauf der Seattle Seahawks bei First Down. Wilson kann nicht jede Woche übermenschliche Leistungen abliefern.
Week 7 zeigte, dass die Seahawks zu 100 Prozent von Russell Wilson abhängig sind. Das dürfte keine Überraschung sein, wurde aber am Sonntagabend eindrucksvoll deutlich. Spielt der Quarterback nicht gut, schwinden die Siegchancen seines Teams. Und da Seattle zuletzt oft sehr verdammt enge Spiele für sich entschied – auch mit Glück – sagt das dann vielleicht doch etwas mehr über die Gesamtqualität der Mannschaft aus, als es den 12s lieb ist.