Pete Carroll begann seine Pressekonferenz nach dem Spiel mit einem Klassiker: Der heutige Tag sei das beste Beispiel dafür gewesen, dass man ein Spiel nicht in der ersten Halbzeit gewinnen kann. Normalerweise packt der Head Coach der Seattle Seahawks diesen Spruch aus, wenn sein Team wieder einmal einen Rückstand in einen Sieg verwandelt hat. Doch beim 27:20-Erfolg über die Atlanta Falcons diente das Carroll-Mantra eher als Mahnung, dass man das Spielen (und Coachen) in der NFL trotz einer 24:0-Halbzeitführung nicht einstellen sollte.
Denn genau das hatten die Seahawks – teils durch Spieler verschuldet, teils durch Trainer – an eben diesem Sonntag getan, als sie die Falcons zurückkommen ließen und einen zur Pause dank fehlerfreier erster Hälfte deutlichen Vorsprung fast noch verspielten. Am Ende fehlte der Heimmannschaft im Mercedes-Benz Stadium nur ein Touchdown zum Ausgleich.
Positiv:
QB Russell Wilson: Der Quarterback fand nach einer etwas schwächeren Week 7 zurück zur MVP-Form. Er brachte an einem passarmen Tag 14 von 20 Würfen für 182 Yards und zwei Touchdowns an, blieb als Läufer aber weitestgehend außen vor (vielleicht ist das Knie doch etwas angeschlagener als bekannt). Spektakulärer als Wilsons zwei locker-leichte Touchdown-Pässe zu Rookie DK Metcalf waren die Bälle auf seinen kongenialen Partner Tyler Lockett (sechs Catches für 100 Yards und wieder einmal unglaubliche Fänge) in Fenster, die praktisch keine waren. In dieser Verfassung und gegen eine desorientierte Falcons-Secondary hätte der Spielmacher der Seahawks gut zwei bis drei weitere Touchdowns erzielen können, wenn man ihn gelassen hätte.
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LB Bobby Wagner: Mit seinen sechs Tackles wurde der Star-Verteidiger am Sonntag zum Franchise-Führenden in dieser Kategorie (991). Bobby Wagner benötigte in seiner achten Spielzeit nur ein paar läppische Minuten im ersten Quarter, um sich in Seattle vollends unsterblich zu machen. Doch nicht nur Tackles machen den Linebacker zum besten Verteidiger der Seahawks – ein aufgenommener Fumble, einen abgewehrte Two-Point Conversion und ein Sack rundeten den Tag ab, der Wagner der Hall of Fame ein weiteres Stück näher gebracht hat.
WR DK Metcalf: Zugegeben, der Wide Receiver hatte bei seinen zwei Besuchen in der Endzone nicht wirklich viel Gegenwehr, doch jeder Ball, den Metcalf nicht über eine Go-Route fängt, ist eine Genugtuung und ein Gruß mit Kusshand an die Kritiker. Er führt die Seahawks mit vier Touchdowns gemeinsam mit Tyler Lockett und Will Dissly nun an und zeigt, warum er in Seattles Offensive eine so große Rolle spielt wie selten zuvor ein Rookie-Receiver. Der Fumble aus der vergangenen Woche ist vergessen und beeinträchtigte Metcalf mental scheinbar überhaupt nicht.
S Marquise Blair: In seinem zweiten Spiel von Beginn an tat der Rookie-Safety all das, was man von einem guten Defensive Back erwartet. Er tackelte (meist) sicher, war dabei führender Tackler im Team (11, 9 davon solo), schwirrte überall auf dem Feld herum und verursachte den Fumble von Falcons-Running Back Devonta Freeman kurz vor der Endzone. Marquise Blair gehört in die Startaufstellung dieser Defense. Er wird seine Fehler machen, er wird Tackles verfehlen oder an der Grenze zur Legalität setzen, er wird sich bei diesen Tackles wehtun. Das aber ist ein Risiko, das Seattle in Kauf nehmen sollte.
Neben Blair glänzte auch Cornerback Shaquill Griffin in der Secondary – wieder einmal. Dass er nach einem schwachen zweiten Jahr 2019 so aufdrehen würde, war nicht unbedingt zu erwarten. Griffin spielte nahezu fehlerfrei, war immer direkt am Gegenspieler und wehrte am Sonntag zwei Pässe ab.
Neutral:
LB Mychal Kendricks: Der viel gescholtene Linebacker – in der Passverteidigung Opfer von Pete Carrolls Base-Defense-Verliebtheit und der eigenen Tackling-Schwäche – musste nicht viel tun, um den schwachen Pass von Falcons-Quarterback Matt Schaub abzufangen, der ihm direkt vor die Nase flog. Sollten die Seahawks an ihrer Defensiv-Strategie mit drei Linebackern in der Stammformation festhalten, wird die Interception Mychal Kendricks einen kleinen Schub geben. Die Fehler in der Manndeckung (zwei verpasste Tackles diesmal, insgesamt jetzt schon 15) kann sie aber nicht kaschieren.
Special Teams: Vielleicht war das die beste Vorstellung der Special Teams in dieser Saison, vielleicht lag’s am (fast) geschlossenen Stadion. Punter Michael Dickson zimmerte endlich wieder Bälle übers ganze Feld, Kicker Jason Myers verwandelte zwei Field-Goal-Versuche sicher, die Coverage-Teams sicherten einen Onside Kick und verhinderten jegliche Return-Dramen.
Laufspiel: In Halbzeit eins funktionierte bei den Seahawks echt alles. Sogar der sonst eher glücklose Running Back Rashaad Penny kam mit seinen acht Läufen auf 55 Yards, was im Schnitt 6,9 Yards pro Lauf ergibt. Nummer-eins-Läufer Chris Carson sah mit 4,5 Yards pro Carry bei 20 Versuchen ebenfalls solide aus, ehe Seattle in der zweiten Halbzeit in ein zurückhaltendes Play Calling verfiel und die verworfene Passspiel-Komponente auch keine Räume mehr für erfolgreiche Läufe schaffen konnte.
Penny, der vor dem Spiel als Trade-Kandidat gehandelt wurde, dürfte durch den Auftritt am Sonntag seinen Wert jedenfalls nicht verringert haben. Sollten die Seahawks ihn wirklich abgeben wollen, müsste dabei wohl ein Spieler auf Seattles Need-Positionen Tight End oder Defensive Back herausspringen oder aber mindestens ein Drittrundenpick. Wie der von den Trainern vor der Saison angedachte One-Two Punch mit Carson und Penny aussehen könnte, war gegen die Falcons erstmals erkennbar.
Negativ:
Passverteidigung: Hätte ein fitter Matt Ryan gegen diese Seahawks-Defense die 1.000 Yards geknackt? Es ist mühsam, darüber zu spekulieren. Fakt ist aber, dass Seattle es Ryans Backup Matt Schaub nicht besonders schwer machte, auf seine am Ende 460 Passing-Yards zu kommen. Cornerback Akeem King, für den am Nacken verletzten Tre Flowers im Einsatz, war schon bei der Bekanntgabe des 53-Mann-Kaders ein Wackelkandidat – aber spätestens gegen die Falcons zeigte sich, dass die Seahawks auf der Cornerback-Position keinerlei Tiefe haben. King wurde von Atlantas Star-Receiver Julio Jones bloßgestellt und ließ eine auf dem Silbertablett servierte Interception fallen. Am Ende standen neben seinem Namen sieben Targets und sieben zugelassene Fänge für 131 Yards. Möglicherweise ist es an der Zeit, auch hier einem Rookie eine Chance zu geben. Viel schlechter kann es Ugo Amadi dann auch nicht mehr machen.
Neben zahlreichen Duellen von trägen Seahawks-Linebackern gegen flinke Falcons-Receiver war der Moment, in dem Defensive Tackle Jarran Reed sich in die Deckung fallen lassen musste (sein Gegenspieler fing den Ball glücklicherweise nicht), das Lowlight der Partie.
Pass Rush: Natürlich ist diese Positionsgruppe auch Teil der Passverteidigung, doch sie muss hier gesondert erwähnt werden. Außer Defensive End Jadeveon Clowney ist da nicht viel. Der zweite Neuzugang Ezekiel Ansah hat wohl eher wieder eine schwache Saison, wie sie in seinem Karriereverlauf teils nach starken Spielzeiten zu finden sind und Rookie-Pass-Rusher L.J. Collier ist anderen Rookies aus seiner Preisklasse weit hinterher. Von insgesamt sechs Tackles für Raumverlust und Sacks kamen nur zwei von der D-Line – Clowney war’s.
Und der bekommt an dieser Stelle nun auch noch seine Dosis Kritik ab. Dreimal schaffte er es, sich vor dem Snap in der neutralen Zone zu positionieren und dadurch Strafen zu kassieren. Michael Bennett war bekannt dafür, öfter mal einen Sekundenbruchteil zu früh in Richtung des gegnerischen Quarterbacks zu stürmen (nimmt man gerne in Kauf, wenn aus dem Risiko viele Sacks resultieren). Sich aber schon vor dem Snap falsch aufzustellen, wie es Clowney tat, ist einfach nur disziplinlos.
Konservatives Play Calling (Offense): Der Ansatz, in der zweiten Halbzeit möglichst viel Zeit mit Laufspiel von der Uhr zu nehmen, um den großen Vorsprung über die Zeit zu retten, ist nachvollziehbar. Warum aber muss man dafür eine Offensive aus dem Rhythmus bringen, die zuvor mit einen erfrischenden Mix aus Pass- und Laufspiel erfolgreich war? Warum passieren die von Fans und Experten oft geforderten Anpassungen immer nur dann, wenn sie nicht zwingend nötig, nicht aber dann, wenn sie unabdingbar sind?
Selbst Russell Wilson wird sich diese Frage am Sonntag gestellt haben. „Was uns [in der zweiten Halbzeit] gestoppt hat war, dass wir bei ein paar Läufen bei den frühen Downs gestoppt wurden“, sagte er nach dem Spiel zu Journalisten. Vielleicht die deutlichste Kritik des Spielmachers am Play Calling, die wir je hören werden. Die Bilanz der zweiten Hälfte: 84 Yards insgesamt für die Seahawks, 325 für die Falcons.
Was hinzu kommt: Sowohl in der Offensive als auch in der Defensive mischten die Seahawks ihre Aufstellungen durch. In der O-Line wurde rotiert, in der Secondary auch, wohl um zuvor verletzten Spielern immer wieder Pausen zu geben. Auf die Idee, dass dies den Rhythmus des Teams ebenfalls beeinträchtigen kann, könnte man kommen. Übrigens ließ Seattles O-Line zwei Sacks zu – gegen ein Team, das zuvor seit Week 3 keinen Sack mehr geschafft hatte.
Verletzungen:
Cornerback Tre Flowers (Nacken) und Safety-Neuzugang Quandre Diggs (Oberschenkel) konnten beide nicht mitwirken, dürften jedoch in der kommenden Woche wieder voll ins Training einsteigen. Safety Bradley McDougald (Rücken) und Left Tackle Duane Brown (Bizeps) waren aktiv, spielten aber eine limitierte Anzahl an Snaps. Zu Ende ist die Saison wohl für Center Justin Britt, der sich direkt zu Beginn der Partie am Knie verletzte. Der erste Verdacht auf einen Kreuzbandriss wird in den kommenden Tagen per MRT geprüft. Zu Safety Marquise Blair, der sich bei einem Stop kurz vor Schluss verletzte und vom bis dahin geschonten McDougald ersetzt wurde, sind bislang keine Informationen vorhanden. Im Laufe des Montags wird es hier sicher Neuigkeiten geben.
Fazit:
In Halbzeit eins sah für die Seattle Seahawks noch alles nach dem klaren Sieg aus, den sich die 12s nach zuvor so vielen knappen Erfolgen sehnlichst gewünscht hatten. Doch eine desolate zweite Halbzeit brachte am Ende fast gar den in dieser Saison so oft gesehenen Arbeitssieg mit hauchdünnem Vorsprung in Gefahr. Enttäuschend ist dabei nicht, dass Seattle so viele Yards zuließ im zweiten Spielabschnitt, sondern dass das Team es nach der Pause nicht schaffte, die Begegnung zu entscheiden.
Unterm Strich zählt gewiss nur der Erfolg, denn nur Siege machen die Playoffs möglich. Die Seahawks stehen mit einem Record von 6-2 besser da, als es jeder Experte vor der Saison 2019 prognostiziert hatte. Doch sie stehen nun auch vor der deutlich schwereren zweiten Hälfte der Saison, in der die schwächsten Gegner wohl die Arizona Cardinals und die Tampa Bay Buccaneers sind, gleichzeitig aber neben den Minnesota Vikings und Los Angeles Rams die San Francisco 49ers gleich zweimal auf dem Spielplan stehen. Parallelen zur zweiten Halbzeit an diesem Sonntag sollten sie da tunlichst vermeiden. Jedoch gab es auch schon genug Teams, die sich Mitte der Saison verbessert haben, konstanter wurden, überzeugender spielten. Mit diesem Gedanken im Hinterkopf sieht 6-2 nicht schlecht aus.
Was bleibt vom Sieg gegen die Atlanta Falcons? Die Gewissheit, dass das Team aus dem Pacific Northwest aktuell außerhalb des Pacific Northwests stärker ist als im heimischen CenturyLink Field (eine 4-0-Auswärtsbilanz gab es zuletzt 1980, Record am Ende der Saison damals: 4-12). Die Vermutung, dass Experten und Fans die Seahawks nicht für voll nehmen werden, bis sie endlich mal ein Spiel überzeugend gewonnen haben – und vermutlich nehmen selbst die Seahawks sich aktuell noch nicht ganz für voll. Die Freude über zwei starke Rookies mit großen Anteilen am Sieg. Die erneute Bestätigung, dass Seattle sich selbst mit Backup-Quarterbacks (Mason Rudolph, Teddy Bridgewater, Matt Schaub) ziemlich schwer tut. Und die Feststellung, dass im Fanlager der Seahawks die Meinungen über dieses Team extrem weit auseinander klaffen.
November und Dezember werden heiß.