Nur drei Dinge auf Erden sind uns ganz sicher: der Tod, die Steuer und Bounce-Back-Spiele von Russell Wilson. Doch heute ist der Tag gekommen, an dem wir Letzteres streichen. Am frühen Sonntagmorgen unterlagen die Seattle Seahawks den Los Angeles Rams im SoFi Stadium in Inglewood mit 16:23. Nicht, weil wenig überraschend ihre Defensive Liga-Bodensatz ist (der aber in der zweiten Halbzeit deutlich besser spielte als ein solcher). Sondern weil doch sehr überraschend ihr Quarterback nicht mehr zurück zu seiner Form aus den ersten Saisonspielen findet – und die gesamte Offensive mit ins Schlamassel zieht.
Spielmacher Wilson wollte sein Glück gegen die Rams erzwingen. Doch an einem seiner schlechtesten Tage überhaupt in der NFL wollte das nicht gelingen. Man mag sich aus dem Fenster lehnen und behaupten, dass selbst die Legion of Boom von 2013 oder 2014 dieses Spiel nicht gewonnen hätte, wenn ihre Offense derartig schwach abgeliefert hätte. Die Verkettung der Negativereignisse war endlos – von Interceptions, über schlechte Snaps und schwache Pass Protection bis hin zu desaströsem Zeitmanagement, irrationale Trainerentscheidungen und komplett untergetauchten Leistungsträgern.
Zu Beginn sah es zunächst so aus, als würde die Defensive dieses Spiel zu einer unlösbaren Aufgabe machen für die Seahawks. Doch mit jedem Stolperer der Angriffsabteilung wurde klarer – spätestens nach der Halbzeitpause – dass es an diesem Tag andersrum sein sollte. Die Offensive war ein Abbild Russell Wilsons. Nervös, schweißgebadet, überhastet. Menschlich. Und Russell Wilson war ein Abbild seiner Defensive aus den vergangenen Spielen.
Der Spielverlauf:
- 1. Quarter: Die Rams beginnen, als hätten sie vor einer Woche die Buffalo Bills nicht gesehen – mit fünf Pässen und vier Läufen. Weil die Laufverteidigung der Seahawks im Gegensatz zur Passverteidigung steht, bleibt’s beim Field Goal zum 0:3. Die Seahawks antworten mit vier Pässen und drei Läufen und Alex Collins findet aus 13 Yards zu Fuß die Endzone. 7:3 nach dem PAT. Ruckzuck ist aber auch Los Angeles dann in Person von Darrell Henderson Jr. in der Endzone, verzögert einzig durch ein paar Läufe. Es steht 7:10, weil die Seahawks-Defense eben immer noch die Seahawks-Defense ist.
- 2. Quarter: Dann darf Michael Dickson erstmals an diesem Tag ran, weil die Seahawks nach einer Strafe für Intentional Grounding von Russell Wilson 3rd & 21 nicht verwandeln können. LA nutzt den Ballbesitzwechsel für einen 93-Yard-Drive, den Malcolm Brown mit dem zweiten Touchdown für die Rams zum 7:17 abschließt. Ein seltener überworfener Pass von Wilson lässt den Drive vor der Endzone enden, weil die Seahawks bei 4th & 6 lieber aufs Field Goal gehen. Dann überschlagen sich die Ereignisse. Jamal Adams schlägt Jared Goff den Ball aus der Hand, D.J. Reed sammelt ihn auf. Russell Wilson hat das offene Feld vor sich, entscheidet sich aber für den Wurf in des Gegners Arme. Weil die Rams aber punten, bekommen die Seahawks noch eine Chance – und verkürzen den Rückstand per Rekord-Field-Goal aus 61 Yards auf 13:17.
- 3. Quarter: Weil die Seahawks bei 4th & Inches an der eigenen 42 kneifen, verpassen sie die Chance auf die Führung. Für die Rams findet nach 88 Yards erneut Malcolm Brown die Endzone. Es steht 13:23, weil Kai Forbath den PAT verzieht. Nach Punts von beiden Teams endet das dritte Viertel.
- 4. Quarter: Bis zum zu tiefen Snap von Kyle Fuller marschieren die Seahawks ordentlich übers Feld, doch dann ist der Ball weg. Seattle forciert dann aber den zweiten Punt in Serie und bekommt einen weitere Chance auf den Anschluss. Doch die endet jäh mit der zweiten Interception von Wilson. Noch einmal stoppt Seattles Defensive die nun extrem vorsichtigen Rams, aber die Zeit reicht nicht mehr, um zwei Scores aufzuholen. Nach einem Field Goal von Myers zum 16:23 misslingt der Onside Kick. Los Angeles kniet ab.
Die Hauptdarsteller:
DT Aaron Donalds Kollegen: Kaum zu glauben, aber in der Statistik von ESPN ist der Defensiv-Star der Rams kaum vermerkt. Kein Sack, kein Tackle for Loss, keine Tackles. Lediglich zwei Quarterback-Hits verbuchte Donald. Mehr war aber auch nicht nötig, weil Andere an Stelle des Defensive Tackles Aktionen zu Ende brachten. Leonard Floyd, Terrell Lewis und Michael Brockers sind hier zu nennen, die Russell Wilson den ganzen Abend über Gras fressen ließen und sein Passspiel im Keim erstickten. Gewiss dank großartiger Zuarbeit von Donald, die eben nicht immer in den Statistikbögen auftaucht.
CB Jalen Ramsey: Der Außenverteidiger der Rams meldete Wide Receiver DK Metcalf komplett ab. Die zwei Protagonisten standen sich bei 30 von 42 Routen gegenüber (70 Prozent). Doch das war kein Duell auf Augenhöhe. Das war vielmehr eine Lehrstunde erster Klasse, wie sie der Passempfänger der Seahawks in seiner Karriere wohl nicht so oft bekommen wird. Metcalf war sichtlich frustriert am Ende des Spiels. Er ärgerte sich über Russell Wilsons Fehler, die Ineffizienz der eigenen Offensive – aber wohl am meisten über sich selbst.
SS Jamal Adams: Zwei Sacks, zwei Tackles for Loss, ein forcierter Fumble und ein Quarterback-Hit – das höchste der Gefühle in der Defensive. Als Pass Rusher ist Adams wertvoll, in der Passverteidigung strauchelte er erneut wie viele seiner Kollegen. Das ist nicht genug für einen Spieler, der zwei Erstrundenpicks kostete. Aber wie will man ihn auch vernünftig evaluieren, wenn die gesamte Secondary oft kollabiert und die Absprachen hinten und vorne nicht stimmen.
Die Nebendarsteller:
Ehrenvolle Erwähnung: DT Poooooooooooona Ford fürs Pinball spielen. Der D-Liner wuselte sich als einer von wenigen Seahawks öfter durch die O-Line der Rams zu Tackles for Loss, Quarterback-Hits, Sacks und Lauf-Stops. Die Special Teams für alles was sie bei Returns, Punts und Kicks taten, um den Seahawks Chancen zu geben. Half leider bloß nix, weil Offense und Defense zu oft streikten. Daher bleibt für die Spezialisten nur die goldene Ananas. K Jason Myers für den neuen Franchise-Rekord in Sachen Field-Goal-Distanz. Der Kicker traf aus 61 Yards und überholte mit diesem Kick Stephen Hauschka in der Rangliste der meisten verwandelten Field Goals in Serie. LB Jordyn Brooks fürs Passverteidigen, wie es ihm viele Kritiker nicht zugetraut hätten.
Stets bemüht: QB Russell Wilson wollte zur Form der ersten Spiele zurückfinden. Aber irgendwie wollte er das zu sehr – und stand deshalb neben sich. Die Interception im zweiten Viertel war eine katastrophale Fehlentscheidung, denn der Wurf kam viel zu spät und Wilson hatte zu Fuß das offene Feld vor sich. Hinzu kamen überworfene Bälle des sonst herausragenden Tiefpassers, eine zweite Interception und kein Gefühl für die Uhr im letzten Drive. Man wollte diesen untypischen Auftritt Wilsons auf eine Verletzung schieben, die es nicht gab oder die er nie zugeben würde. Zu viele Hits bekam er dennoch ab. RB Alex Collins spielte überraschend von Beginn an. Er erzielte seinen ersten NFL-Touchdown seit November 2018 und seine ersten Seahawks-Punkte seit 2016. TE Greg Olsen fällt zwar für seinen teuren Vertrag zu selten auf im Spiel der Seahawks, doch gegen LA fing er Bälle zu zwei wichtigen (aber am Ende wertlosen) Third-Down Conversions.
Meh: Das Coaching der Seahawks-Trainer alleine war schon eine Niederlage wert. Die zwei Paradebeispiele: 1) 4th & Inches an der eigenen 42 mit der besten Offensive der Liga nicht ausspielen und stattdessen mit einer bewusst in Kauf genommenen Zeitverzögerung mehr Platz für den Punt schaffen und der schlechtesten Defense der Liga das Spiel in die Hand legen. Pfui. 2) Bei 3rd & Long immer und immer wieder den Blitz schicken, obwohl der Gegner darauf stets per Screen eine Antwort parat hat und selbst die Fans das nach Wochen der Wiederholung inzwischen kommen sehen. Auweia. WR DK Metcalf war gegen Jalen Ramsey, den Top-Cornerback der Rams, komplett abgemeldet. Null Touchdowns, null Yards, null Fänge, null Targets. Okay, nur bis das vierte Quarter begann, dann fing er doch noch zwei Bälle für 28 Yards.
Die Highlights:
Als Running Back Alex Collins bereits nicht mehr bei den Seahawks spielte, berichtete ein TV-Team einmal über seine Leidenschaft für traditionellen Tanz aus Irland. Die scheint hier geholfen zu haben:
Willkommen zurück, RB Alex Collins! Im Stile eines Irish Dancers tanzt er in die Endzone. pic.twitter.com/V7fs8UhT8F
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) November 15, 2020
Field Goals in einem Dome machen Spaß. Also nur dann, wenn die Conversion wirklich keinen Sinn macht. Kicker Jason Myers verwandelte am Sonntag aus 61 Yards für den Franchise-Rekord. Seine nun 20 verwandelten Field Goals in Serie bedeuten in der Rangliste der Seahawks Platz 3 – Myers überholte mit seinen zwei Field Goals in Inglewood Stephen Hauschka.
Jason Myers… SIXTY ONE YARDS.
IT'S GOOD!
📺: #SEAvsLAR on FOX
📱: NFL app // Yahoo Sports app: https://t.co/p1akRoFoep pic.twitter.com/murVeb7GpS— NFL (@NFL) November 15, 2020
Die Randnotizen:
- CB D.J. Reed sammelte die meisten Tackles für die Seahawks – alle zehn solo.
- Die Seahawks blitzten Jared Goff in der ersten Halbzeit bei zwölf seiner 25 Dropbacks. In den vergangenen zwei Wochen lag Seattle noch bei über 50 Prozent Blitz-Rate.
- Seattle verwandelte wieder einmal nur die Hälfte seiner Third Downs. Sieben von 14 Conversions glückten. Bei den Rams: 9/15.
- QB Russell Wilson hat in dieser Saison nun bereits zehn Interceptions geworfen, sieben davon in den vergangenen vier Spielen. Die MVP-Diskussion beenden wir bitte hier und jetzt. Nicht wegen der Anzahl der Picks, denn zweifelsohne wirft Wilson einfach auch mehr Pässe in dieser Runde. Beunruhigend ist eher die Art der Interceptions. Die meisten waren krasse Böcke ohne jegliche Teilschuld von Mitspielern.
Die Verletzten:
Keine Überraschungen vor dem Spiel. Die Running Backs Chris Carson und Carlos Hyde fehlten, die Cornerbacks Quinton Dunbar und Shaquill Griffin ebenfalls. Dazu fiel Center Ethan Pocic mit einer Gehirnerschütterung aus. Für Dunbar rückte D.J. Reed nach außen neben Tre Flowers, Ugo Amadi übernahm im Slot. Für Pocic spielte Kyle Fuller.
Strong Safety Jamal Adams verletzte sich im ersten Drive der Rams an der Schulter, verließ das Spielfeld in Richtung Kabine und war im zweiten Drive direkt wieder zurück. Er spielte eigener Aussage zufolge nur noch „mit einem Arm“ für den Rest der Partie, will aber Thursday Night Football auf keinen Fall verpassen. Running Back Travis Homer verletzte sich wohl bei einem Kickoff-Return in der zweiten Halbzeit an der Hand und verkomplizierte die Läufer-Situation weiter.
Bei Los Angeles verletzte sich der Veteran-Tackle Andrew Whitworth schwer am Knie. Der 38 Jahre alte O-Liner wurde auf dem Wagen vom Feld gefahren, nachdem ihm auch Russell Wilson und Duane Brown von den Seahawks gute Besserung gewünscht hatten. Es könnte der letzte Auftritt des Liga-Dinosauriers gewesen sein.
Nach dem Spiel teilte Pete Carroll mit, dass Fuller sich am Sprunggelenk verletzt habe. Left Guard Jordan Simmons erlitt eine Wadenverletzung. Neiko Thorpe bekommt die Probleme mit seiner Leiste einfach nicht in den Griff.
Das Zitat:
„D.J. uuuh, DK Metcalf […].“ -Feldreporterin Erin Andrews von FOX Sports über den Wide Receiver der Seahawks, nachdem der noch unter der Woche erzählt hatte, dass immer noch Leute ihn beim falschen Vornamen nennen würden und er das nicht möge
My Name IS NOT DJ METCALF
— DK Metcalf (@dkm14) November 5, 2020
Der Tweet:
Das hier passierte zeitgleich zum Seahawks-Spiel in Glendale und stellte die Tabelle der NFC West komplett auf den Kopf:
Don't ever say it's impossible… pic.twitter.com/lqe2UkxsCT
— Deandre Hopkins (@DeAndreHopkins) November 16, 2020
Das Fazit:
Dieses Spiel geht auf Russell Wilson. Er weiß das. Er bekam das während der Partie von DK Metcalf mitgeteilt. Und er wird das auch in Week 11 spüren, weil sein Cheftrainer nun vielleicht kneift und am Freitagmorgen wieder öfter Running Back Chris Carson bei den frühen Downs in neutralen Situationen auf den Weg schicken wird. Der Bounce-Back-König ist angeknockt. Er wird zurückkommen. Aber am vielleicht schlechtesten Spiel seiner Karriere wird Wilson noch eine Weile zu knabbern haben. Zum Glück hat er nur bis Donnerstag Zeit.
Nach zehn Wochen NFL-Saison 2020 haben wir ein recht gutes Bild davon, welche Teams stark sind und welche schwach. Seattle hat gegen drei starke Teams verloren, das steht fest. Wenn die Playoffs der Maßstab der Seahawks sind, müssen sie diese drei Mannschaften schlagen. Man möchte sich auf der Suche nach einem Hoffnungsschimmer nun fast gar daran festklammern, dass die Defensive der Seahawks in der zweiten Halbzeit gegen dann konservative Rams bis auf einen Touchdown nix zuließ und der Angriffsabteilung alle Chancen gab, das Spiel zu drehen.
Head Coach Pete Carroll fand auch im x-ten Duell mit Sean McVay keine Antwort auf dessen Offensive. Zumindest in der ersten Halbzeit. Seine Mannschaft verlor zum dritten Mal in Serie in Los Angeles. Defensive Coordinator Ken Norton Jr. ließ seine Defensive so spielen, wie es jeder Gegner wohl vorhergesagt hätte. Die eigenen Spieler wirken verunsichert. Und Offensive Coordinator Brian Schottenheimer scheiterte an seiner wackligen O-Line (ohne Ethan Pocic) und seinem nicht mehr wiedererkennbaren Quarterback. Wenn sie alle jetzt nicht alarmiert sind und schnellstens neue Reize setzen, kippt die Saison, die bis zur Bye Week noch so verheißungsvoll aussah.
Niederlagen passieren. Ja, Niederlagen sind okay. Denn Niederlagen gehören selbst zu Super-Bowl-Saisons. Aber Super-Bowl-Kandidaten werden über ihre Reaktion auf Niederlagen definiert. Zum engeren Kandidatenkreis gehören die Seahawks seit diesem Sonntag nicht mehr. Panik bringt aber niemanden weiter, schon garnicht in einer kurzen Woche. Doch die Tatsache, dass Seattle nun nur noch auf Platz drei in der NFC West steht und sich damit Stand jetzt gerade so für die Playoffs qualifiziert, ist beunruhigend. Sie muss eine Trotzreaktion hervorrufen. Auf dem Spielfeld. An der Seitenlinie. Im ganzen Virginia Mason Athletic Center – von der Grafikdesignerin bis zum Koch. Nur drei Siege in der Division und eine fehlerlose Bilanz gegen Eagles, Giants, Jets und Washington Football Team geben Seattle noch eine Chance auf den Spitzenplatz.
Ausblick: In Woche 11 empfangen die Seahawks bereits in der Nacht von Donnerstag auf Freitag um 2.20 Uhr die Arizona Cardinals zum Divisions-Rückspiel im CenturyLink Field.