Wären die Seattle Seahawks ein Film, es wäre wohl Stanley Kubricks legendärer Horror-Klassiker „Shining“. Sich wiederholende Muster, die die Zuschauerinnen und Zuschauer an die Bildschirme fesseln, immer wieder zusammenzucken lassen und ihnen zeigen, dass am Ende die Guten gewinnen. Ein (hier im positiven Sinne) verrückter Hauptdarsteller. Und ein magischer-mystischer Drehort. Am Ende steht im CenturyLink Field ein knapper 38:31-Sieg über die Dallas Cowboys auf der Anzeigetafel. Erstmals seit 2013 wieder starten die Seahawks mit 3-0 in eine Saison.
Dass die Partie überhaupt zum Horrorfilm/Thriller/Krimi wurde, verdanken die Seahawks mehreren selbstverschuldeten Faktoren. Zum einen dem Aussetzer von Wide Receiver DK Metcalf. Zum anderen der unglaublich anfälligen Verteidigung, die im Schnitt etwas unter 500 Yards und knapp 30 Punkte pro Spiel zulässt. Der Spielverlauf im Überblick:
Der Spielverlauf:
- 1. Quarter: Ein geblockter Pass, ein Sack, ein Lauf bei 3rd & 16 – die Seahawks gehen zum Start Three & Out. Die Cowboys machen aus ihrem ersten Drive zumindest ein 43-Yard-Field-Goal. Dann kocht Russell Wilson erstmals und bedient per Play Action Tyler Lockett über 43 Yards zum Touchdown – 7:3. Den anschließenden Return vergurkt Dallas und startet an der eigenen 1. Ezekiel Elliott stolpert wie zuvor Tony Pollard und endet in der eigenen Endzone auf dem Boden. Safety, 9:3. Kurz vor Ende des Viertels vollendet Elliot einen Drive, bei dem die Seahawks zwei lange Pässe zulassen. Nur der Extrapunkt doinkt. 9:9. Und dann? Was zum Henker, DK Metcalf?!
- 2. Quarter: Nach einem ereignisreichen ersten Viertel verschnaufen beide Teams erstmal, ohne den Ball viel zu bewegen. Dann erzwingen die Seahawks mehrere Strafen für die Cowboys-Secondary und lassen erneut die Wilson-Lockett-Kombination aus kurzer Distanz die Endzone besuchen (16:9 nach dem PAT). Dallas antwortet in Windeseile mit einem kurzen, für die Seahawks-Secondary schmerzvollen Drive und langen Pass auf Cedrick Wilson, gleicht aber nicht aus, weil Tre Flowers den Extrapunkt blockt – 16:15. Nach einer Interception von Shaquill Griffin und ein bisschen Strafen-Verwirrung schlagen Wilson und Lockett zum dritten Mal zu. Halbzeitstand – 23:15.
- 3. Quarter: Ruhiger Start. Jarran Reed mit dem Avril’schen „Sack Fumble“, Benson Mayowa erobert. Wilson findet Jacob Hollister bei 2nd & Goal an der gegnerischen 1 in der Endzone. Die Seahawks führen 30:15. Nach Punts von beiden Teams punkten die Cowboys schließlich erneut durch den zweitbesten Wilson auf dem Kunstrasen (30:22).
- 4. Quarter: Bei den Seahawks läuft in Offensive und Defensive nicht mehr viel zusammen. Prescott und Michael Gallup nutzen das aus und zerlegen die Secondary erneut in ihre Einzelteile. Der Ausgleich scheitert an Ugo Amadis Tackling – es bleibt beim 30:28. Für Seahawks-Fans bleibt der Lichtblick die Punt-Leistung von Michael Dickson. Die Cowboys hingegen machen aus ihren nächsten Drive ihre erste Führung des Spiels – 30:31. Als sie müssen, klappt’s dann auch bei den Seahawks wieder. Metcalf betreibt Wiedergutmachung, Hollister fängt die Two-Point Conversion zum 38:31. In den verbleibenden zwei Minuten finden die Cowboys nicht mehr den Weg in die Endzone, weil Rookie Alton Robinson seinen ersten Sack schafft, Shaquem Griffin mit gehörig Wut im Bauch übers Feld dampft und Ryan Neal die entscheidende Interception fängt.
Die Hauptdarsteller:
QB Russell Wilson: Diese Position ist im Recap schreibt sich Woche für Woche von alleine. Seit diesem Spieltag ist Wilson der erste NFL-Spieler mit mindestens vier Touchdown-Pässen in den ersten drei Spielen einer Saison. Und er ist nun auch der erste Spieler in der Geschichte der Liga mit 14 Touchdown-Pässen in den ersten drei Wochen der Spielzeit. Wilsons Zahlen: 27/40 für 315 Yards und fünf Touchdowns. Experte Troy Aikman meckerte auf verdammt hohem Niveau und erzählte im US-amerikanischen Fernsehen immer wieder, dass Wilsons Pässe teils ein wenig ungenau seien an diesem Tag. Mag sein, aber der Seahawks-Quarterback kochte unbeirrt weiter, während Aikman auf Fehlersuche war.
WR Tyler Lockett: Die Verbindung zwischen dem Quarterback und seinem Nummer-eins-Receiver ist und bleibt einzigartig. Wilson fand Lockett alleine in der ersten Halbzeit dreimal für einen Touchdown. Der Passempfänger schafft erstmals in seiner NFL-Karriere drei Scores in einem Spiel und ist der erst vierte Seahawk nach Joey Galloway (1997), Steve Largent (1987) und Daryl Turner (1985), dem diese Leistung in nur einer Halbzeit gelang. Locketts Zahlen: 13 Targets und neun Receptions für 100 Yards.
Die Nebendarsteller:
Ehrenvolle Erwähnung: DE Alton Robinson fürs starke Debüt im Seahawks-Trikot. Der Rookie stand zwar ein, zwei Mal als zwölfter Spieler auf dem Feld (vielleicht den Fans zu Ehren), machte aber Druck wie kaum ein anderer Pass Rusher der Seahawks. Er krönte seinen Auftritt mit einem Sack kurz vor Schluss, der die Cowboys ihr letztes Timeout kostete. DB Ugo Amadi für ein solides Spiel – sein erstes von Beginn an seit dem Ausfall von Marquise Blair in der Vorwoche. Amadi wehrte mehrere Pässe bei Third Down ab, verhinderte eine Two-Point Conversion und tackelte wie immer bombensicher. Er war der Lichtblick der extrem anfälligen Secondary. P Michael Dickson für Punts bis zum Mond und zurück. Wir durften (oder mussten) sie bloß leider Mitte der zweiten Halbzeit zu oft in ihrer Schönheit bestaunen.
Stets bemüht: LT Duane Brown ließ sich zu beginn ein wenig von Cowboys-Rusher Aldon Smith herumschubsen. Vielleicht einmal zu viel für einen Veteran seines Kalibers. Insgesamt hielt er aber wie die gesamte – mit Dauer des Spiels immer ersatzgeschwächtere – Offensive Line dicht und verschaffte Wilson genug Zeit für den tiefen Pass (3,41 Sekunden im Schnitt; NFL-Bestwert in Week 3). Mit anderen Worten: Der Positivtrend setzt sich fort. Die Defensive Line riss sich zusammen, schaltete das Cowboys-Laufspiel um Running Back Ezekiel Elliott komplett aus (21 Läufe für 61 Yards) und erzwang am Ende mit die Entscheidung. Neben Rookie Robinson stachen Benson Mayowa und Jarran Reed heraus, die mit einem Ballgewinn die zweite Halbzeit furios eröffneten.
Meh: Die Secondary bog sich und… brach viel zu oft. Vor allem bei den zwei Cornerbacks auf den Außenbahnen schenkten ihren Receivern reihenweise Explosive Plays. Shaquill Griffin und Tre Flowers (für den verletzten Quinton Dunbar in der Startformation) lieferten sich ein heißes Duell um die mieseste Leistung des Tages, überboten sich andauernd gegenseitig – und gewannen am Ende irgendwie beide. WR DK Metcalf muss hier stehen, denn trotz vier Receptions für 110 Yards und einem späten Touchdown zur Wiedergutmachung – diese Slapstick-Einlage war an Arroganz und Leichtsinn kaum zu überbieten. Sie kostete Seattle am Ende fast den Sieg. Leon Lett und DeSean Jackson werden stolz auf Metcalf sein, sobald sie diesen Clip sehen. Bei aller Rüge: Metcalf blieb dran und verzog sich nach seinem Fauxpas nicht.
Die Highlights:
Kaum ein Wide Receiver verschafft sich beim Routen laufen so viel Separation wie Tyler Lockett. Aber natürlich hilft es, wenn die gegnerische Secondary das mit der Absprache selbst im leeren CenturyLink Field nicht so gut hinbekommt, wie beim ersten Touchdown der Seahawks geschehen.
Cowboys-Secondary: "Nimm du ihn, ich hab ihn sicher."pic.twitter.com/8Xr2kC6NsT
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) September 27, 2020
Drei Jahre Practice Squad. Die Berufung in den Kader am 3. Spieltag. Drei Stunden am Spielfeldrand. Der Einsatz für den verletzten Strong Safety Jamal Adams. Und dann die spielentscheidende Interception kurz vor Schluss. Die Geschichte von Seahawks-Safety Ryan Neal könnte keinen schöneren (vorläufigen) Höhepunkt finden.
Feierabend! Feiernacht! pic.twitter.com/j7Eursq510
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) September 28, 2020
Inzwischen können wir alle drüber lachen. Worte können das Gesehene trotzdem kaum beschreiben. Überlassen wir es deshalb einer Grafik.
Metcalf play dots!! pic.twitter.com/XdiWr5SMC7
— Seth Walder (@SethWalder) September 27, 2020
Die Randnotizen:
- LB Bruce Irvins Ausfall hatte ein paar strategische Konsequenzen auf der Linebacker-Position. K.J. Wright wechselte auf die Strongside, Jordyn Brooks übernahm für ihn die Weakside – aber nur in der Base-Formation. Bei Nickel rutschte Wright hingegen wieder auf die andere Seite und Defensive Back Ugo Amadi übernahm für Brooks. Und wie er das tat.
- Seattles Third-Down-Defensive wirkte zu Beginn des Spiels hilflos und stabilisierte sich auch nur minimal. Die Cowboys verwandelten sieben von 15 dritten Versuchen (und zwei von zwei vierten).
- QB Russell Wilson durfte gefühlt nicht ganz so oft kochen bei First und Second Down wie noch in Week 1 und 2. Das Resultat waren folglich mehr Third Downs (13), von denen Seattle nur fünf verwandelte. In den vorherigen Wochen geriet Seattle jeweils weniger als zehn Mal in Third-Down-Situationen.
- CB Shaquill Griffin bejubelte seine erste Interception seit September 2018 ausgiebig. Ansonsten gab’s bei seinem Auftritt auch keinen Grund zur Freude.
- Der Safety der Seahawks im ersten Quarter war der erste des Teams seit dem Spiel bei den Arizona Cardinals in der Saison 2017.
- TE Jacob Hollister zeigte högschde Effizienz. Aus offiziell einem Catch machte er acht Punkte. Wie das? Der Catch bei der Two-Point Conversion wird nicht in der Statistik geführt.
- Die Seahawks verschwendeten im ersten Quarter zwei Timeouts, weil sie zwölf Verteidiger auf dem Feld hatten. Aber selbst wenn es niemand gemerkt hätte, hätten sie mit zwölf Spielern zu diesem Zeitpunkt wohl kaum Druck auf Dak Prescott ausgeübt.
- TE Greg Olsen war nach schwachen Auftritt in Week 2 wieder der Alte. Die Tatsache, dass Wilson im spielentscheidenden Drive der Seattle-Offensive bei 4th & 3 (die einzige Fourth-Down Conversion der Seahawks) seinen Oldie-Passempfänger suchte, spricht für das große Vertrauen zwischen den beiden Veterans und die harte Arbeit, die sie in der Offseason investierten.
- Es ist unklar, ob das etwas mit dem Abgang von Special Teams Coordinator Brian Schneider kurz vor Saisonbeginn zu tun hat, aber die Spezialisten sind bislang in dieser Saison verdammt effizient. Nur einer von 14 Drives der Cowboys begann außerhalb der eigenen 25. Neben P Michael Dickson lieferte auch das Coverage-Team eine fantastische Leistung ab.
- Warum genau war DE Alton Robinson in den ersten zwei Saisonspielen inaktiv?
- Neun Besuche in der Redzone in dieser Saison – neun Touchdowns. Kritik an Skybox-Schotty ist aktuell komplett fehl am Platz.
Die Verletzten:
Die Cornerbacks Neiko Thorpe (Hüfte) und Quinton Dunbar (Knie) wurden nicht rechtzeitig fit. Genauso musste überraschend Safety Lano Hill aussetzen, der mit einer steifen Hüfte und Rückenproblemen aufgewacht war.
Right Guard Damien Lewis verließ das Spielfeld im ersten Quarter mit einer Sprunggelenksverletzung und kehrte nicht zurück. Wenig später fiel auch Left Guard Mike Iupati (Knie) aus. Mitte des dritten Quarters musste Linebacker Jordyn Brooks mit einer Knieverletzung raus. Und es hörte nicht auf. Safety Jamal Adams musste mit einer Leistenzerrung vom Feld. Außerdem verletzte sich Chris Carson, als sein Gegenspieler Trysten Hill ihm nach Ende eines Spielzugs das Knie mutwillig verdrehte.
Pete Carroll hatte nach der Partie noch keine Details zur Schwere der Verletzungen für die Medienvertreter parat (besonders in Bezug auf die Knie von Brooks und Carson), erwähnte aber zusätzlich noch Center Ethan Pocic, der das Spiel mit einer Knieverletzung beendet habe. Im Laufe der Nacht gaben mehrere Reporter allerdings zumindest einmal vorsichtig Entwarnung: Carsons Verletzung sei nicht schwer. Erste Details gibt’s wohl frühestens am Montagabend deutscher Zeit.
Das Zitat:
„Russells Gehirn akzeptiert keinen anderen Ausgang als den Sieg.“ -Head Coach Pete Carroll über einen weiteren Game-Winning Drive seines Quarterbacks
Der Tweet:
Na, wer versteht die Anspielung? Irgendwie passt dieser Tweet zum Spiel von Wide Receiver DK Metcalf, denn nach seinem schon sicher geglaubten Touchdown wollten ihm ein paar Personen am Spielfeldrand der Seahawks gewiss den Kopf abreißen.
Now streaming. pic.twitter.com/G3RbN32Isd
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) September 27, 2020
Das Fazit:
Eigentlich nicht viel neues. Russell Wilson kocht. Tyler Lockett isst. Die Passverteidigung ist ein großes Problem. Der Pass Rush kommt zu selten zum gegnerischen Quarterback durch. Die Offense gewinnt weiterhin Spiele, die die Defense (diesmal mit DK Metcalfs freundlicher Unterstützung) zu verlieren droht. Lichtblicke gibt’s aber auch auf Seiten der Verteidigung: Alton Robinson, Shaquem Griffin und Ugo Amadi beispielsweise.
Die Seattle Seahawks haben auch ihr drittes Saisonspiel 2020 gewonnen, weil ihr Quarterback wie von einem anderen Stern spielt. Solange das so bleibt, ist das Team von Head Coach Pete Carroll Titelfavorit. Nur: Die Verletzungen häufen sich nach drei Spielen. Und die Fehlerquellen sind bislang nicht verschwunden. Trotz namhafter, teurer Verstärkungen ist die aktuelle Defensive sogar schlechter als die Gruppe von 2019. Nach den ersten zwei Spieltagen wollte man es auf Corona und die mangelnde Spielpraxis der Secondary in der jetzigen Konstellation schieben. Nach drei Spieltagen will man das geduldig und mit viel Wohlwollen zwar immer noch. Doch langsam dürfen die Fragen lauter werden, warum Carroll und sein Defensive Coordinator Ken Norton Jr. es nicht schaffen, aus auf dem Papier gutem Personal eine tatsächlich gute Defensive zu basteln.
Ausblick: In Week 4 gastieren die Seahawks am 4. Oktober um 19 Uhr bei den Miami Dolphins (1-2), die am frühen Freitagmorgen (Thursday Night Football) gegen die Jacksonville Jaguars ihren ersten Saisonsieg feierten.