Drei oder mehr Interceptions hat Russell Wilson in seiner Karriere bis zu diesem Spiel nur dreimal geworfen. Spiel Nummer vier in dieser nicht so erfreulichen Kategorie kam in der vergangenen Nacht hinzu. Der bislang so stark aufspielende Quarterback der Seattle Seahawks machte sein seit sehr langer Zeit schlechtestes Spiel. Und so verlor das Team aus dem Pacific Northwest einem Overtime-Thriller bei den Arizona Cardinals im State Farm Stadium in Glendale voller Highlights und vor allem voller unnötiger Fehler letztendlich verdient mit 34:37.
Die Seahawks schossen sich in diesem Spiel mehrfach in den eigenen Fuß. Einerseits hatte Seattle mehrmals die große Chance, die Partie vorzeitig zu den eigenen Gunsten zu beenden. Andererseits muss man auch klar anerkennen, dass die Seahawks in dieser Saison bereits mehrfach viel Glück auf ihrer Seite hatten. Nicht zuletzt vor zwei Wochen gegen die Minnesota Vikings. Insofern darf man sich auch nicht unbedingt beschweren, dass das Glück in dieser Woche einmal nicht auf Seiten der Seahawks war.
In einem für Fans (wieder einmal) emotional erschöpfenden Spiel unterlagen die Seahawks erstmals in dieser Saison und stehen damit nun bei einem Record von 5-1. Das ist zwar noch kein Grund zur Panik, war jedoch der Auftakt zum härtesten Abschnitt des Spielplans, der nun schief ging. Der Druck ist damit jetzt bedeutend höher geworden, wenn Seattle die Division gewinnen und auch den Nummer-eins-Seed in der NFC erreichen möchte.
Der Spielverlauf:
- 1. Quarter: Vier der ersten fünf Plays der Seahawks sind Pässe. Fast schon mühelos bewegt sich die Offense der Seahawks im ersten Viertel über das Feld. Am Ende des ersten Drives findet Russell Wilson Tyler Lockett in der Endzone zum 7:0. Weil sich die Defensive der Cardinals daraufhin zumindest innerhalb der eigenen 25-Yard-Line fängt, muss Jason Myers zum erst dritten Field Goal in dieser Saison ran. Im folgenden Drive hält Kyler Murray die Cardinals mit mehreren Scrambles am Leben und findet schließlich DeAndre Hopkins in der Endzone, der nach einem perfekten Pass auf 10:7 verkürzt.
- 2. Quarter: Der Beginn des zweiten Viertels verläuft ziemlich wild. Zunächst schlägt Poona Ford DeAndre Hopkins den Ball aus der Hand. Daraufhin wirft Wilson eine schreckliche Interception an der Goalline der Cardinals, den Safety Budda Baker nicht zum Touchdown zurückträgt, weil DK Metcalf mit einem unglaublichen Hustle-Play den Touchdown verhindert. Seine Aktion war vor allem deshalb so wichtig, weil die Seahawks-Defensive kurz darauf einen Turnover on Downs an der eigenen Endzone schafft. Unbeeindruckt von seiner Interception führt Russell Wilson die Offensive daraufhin in sechs Plays 97 Yards übers Feld. Der Drive endet in einem 20-Yard-Rushing-Touchdown von Carlos Hyde. In ähnlich hohem Tempo erzielen die Cardinals daraufhin auch einen Touchdown (Christian Kirk). Die Seahawks antworten nochmals mit einem großartigen Drive, den Tyler Lockett mit einem schönen Catch in enger Coverage abschließt. Mit noch 40 Sekunden auf der Uhr schaffen die Cardinals es noch einmal gegen konservative Passverteidiger der Seahawks in die gegnerische Hälfte. Per Field Goal verkürzt Arizona zum Halbzeitstand von 27:17.
- 3. Quarter: Zunächst passiert außer jeweils einem Punt auf beiden Seiten nicht viel. Nach einem sehr fragwürdigen Call der Schiedsrichter gegen Bobby Wagner, der den Drive der Cardinals am Leben hält, verkürzt Kyler Murray mit einem Rushing-Touchdown auf 27:24.
- 4. Quarter: Zu Beginn des letzten Viertels probiert Wilson einen Wurf Richtung DK Metcalf in die Endzone der Cardinals. Dumm nur, dass Metcalf seine Route schon früher abbricht und Patrick Peterson gemütlich eine Interception fangen kann. Im folgenden Play wirft Kyler Murray den Ball direkt zurück in Richtung Seattle beziehungsweise Quandre Diggs. Circa fünf Minuten vor Ende der regulären Spielzeit spielen die Seahawks ein 4th & 2 aus — und erzielen von kurz vor der Endzone einen Touchdown zum 34:24. Als das Spiel schon in trockenen Tüchern zu sein scheint, begeht Benson Mayowa bei einem Field-Goal-Versuch der Cardinals eine unnötige Strafe (Leverage) und hält deren Drive am Leben. Resultat: Touchdown – nur noch drei Punkte Vorsprung für die Seahawks. Daraufhin hat Seattle drei Plays Zeit, um den Sack zuzumachen. Nach drei Läufen muss Seattle jedoch punten, was schließlich den Ausgleich per Field Goal ermöglicht. Es geht in die Verlängerung.
- Overtime: Die Seahawks gewinnen den Toss und werden in der Mitte des Feldes nach einem Sack gestoppt. Arizona kommt daraufhin weit in die Hälfte der Seahawks. Den potenzielle Game Winner verschießt aus 41 Yards jedoch Kicker Zane Gonzalez. Ein Touchdown von DK Metcalf wird aufgrund eines Holdings von David Moore zurückgepfiffen. Ein Play später trifft Wilson wieder eine haarsträubende Entscheidung. Sein Wurf wird zum dritten Mal im Spiel abgefangen. Das dann folgende Field Goal der Cardinals aus 48 Yards sitzt. Endstand: 34:37.
Die Hauptdarsteller:
QB Russell Wilson (1): Der Quarterback der Seahawks sah nicht aus wieder der Quarterback, den wir in den bisherigen Spielen zu Gesicht bekamen. Dreimal bekam Wilson die Chance, das Spiel für die Seahawks zu gewinnen. Kurz vor Ende des letzten Viertels und zweimal in der Overtime. Dreimal scheiterte der Quarterback. Die nackten Zahlen: 33 Pässe bei 50 Passversuchen für 388 Yards. Hinzu gesellen sich drei Touchdowns sowie drei Interceptions.
QB Russell Wilson (2): Seattles Offensive war also durchaus in der Lage den Ball zu bewegen (572 Netto-Yards und 34 Punkte gegen eine Defense, die bisher nur 18 Punkte pro Spiel kassierte), machte aber in entscheidenden Situationen zu viele Fehler. Und diese lagen vor allem bei Wilson. Gerade die Interception in der Overtime war ein hässlicher Wurf, bei dem Wilson wohl nicht einmal selbst wusste, wohin er mit dem Ball gehen wollte. Dieses Team geht nur so weit wie sein Quarterback. Und an diesem Tag spielte dieser schlicht und ergreifend nicht gut genug, während sein Gegenüber bei den Cardinals effizienter war (3 TD, 1 INT). Wilsons 0,03 EPA/Play sind der niedrigste Wert für ihn in dieser Saison. Solche Spiele kommen vor. Wilson muss sich in den kommenden Wochen jedoch unbedingt wieder von seiner besten Seite zeigen.
Unnötige Fehler und verpasste Chancen (1): Wo soll man hier anfangen? Zunächst wahrscheinlich beim unnötigsten und vermeidbarsten Fehler, den die Seahawks in diesem Spiel in Person von Defensive End Benson Mayowa machten: Beim Stand von 34:24 für die Seahawks mit nur noch drei Minuten auf der Uhr schaffte Seattle es, Arizona bei einem Field-Goal-Versuch zu halten, als diese sich bei einem 4th & 12 dazu entschieden, zu kicken. Durch eine schlicht und ergreifend dämliche „Unsportsmanlike Conduct“-Strafe von Mayowa (er wollte den Kick blocken und sprang deshalb regelwidrig über die Line des Gegners) wurde der Drive der Cardinals jedoch am Leben gehalten. Er endete dann tatsächlich in einem Touchdown. Hätte Mayowa diesen Fehler nicht begangen, hätte Seattle das Spiel mit großer Wahrscheinlichkeit gewonnen, da die Cardinals in ihrem letzten Drive kein Field Goal sondern einen Touchdown zum Ausgleich benötigt hätten.
Unnötige Fehler und verpasste Chancen (2): Kritisch zu beäugen ist außerdem die Entscheidung der Seahawks beim Vorsprung von 34:31 im letzten Drive des Schlussviertels dreimal den Ball zu laufen. Bei einem First Down hätte Seattle auch hier den Sack zu machen können. Seattle lief bei 3rd & 2 und wurde gestoppt. So wurde die Overtime überhaupt erst möglich. Und auch dort in der Verlängerung begingen die Seahawks schwerwiegende Fehler. Im ersten Drive verursachte Right Tackle Brandon Shell bei 3rd & 6 einen False Start. Bei 3rd & 11 wurde Wilson dann zu Boden gebracht. Und vor Wilsons letzter Interception negierte ein Holding-Strafe von David Moore einen Game-Winning Touchdown von DK Metcalf. Fehler über Fehler also, die die Seahawks letztlich am Sieg hinderten.
Die Nebendarsteller:
Ehrenvolle Erwähnung: Die Offensive Line für wieder einmal sehr gutes Blocking sowohl im Pass- als auch im Laufspiel. WR Tyler Lockett muss an dieser Stelle ebenfalls unbedingt erwähnt werden. Er las wohl unter der Woche unsere „Nachgehawkt“-Kolumne. Seine Reaktion darauf: 15 Passfänge für 200 Yards sowie drei Touchdowns. Allesamt Karriere-Bestwerte. Während DK Metcalf etwas untertauchte, stach Lockett umso mehr heraus, tanzte nach dem Catch regelmäßig die Passverteidiger der Cardinals aus und machte darüber hinaus einige Fantasy-Football-Spieler glücklich. FS Quandre Diggs und DT Poona Ford müssen stellvertretend für die Defensive genannt werden, die durchaus wieder in der Lage war, Turnover zu kreieren. Ford forcierte einen Fumble und Diggs fing einen etwas missratenen Pass von Kyler Murray ab.
Stets bemüht: CB Quinton Dunbar ließ zwar mehrere Passfänge von Star-Receiver DeAndre Hopkins zu, machte insgesamt jedoch ein solides Spiel und ließ ansonsten kaum Big Plays zu. Auch bei Screen-Pässen verteidigte er (wie der Meister auf diesem Gebiet namens K.J. Wright) solide.
Meh: DE Benson Mayowa steht stellvertretend für eine Defensive Line, die kaum Druck auf Kyler Murray ausüben konnte. Kein einziges Mal brachten die Quarterback-Jäger der Seahawks den jungen Spielmacher zu Boden. Nur bei einem von 48 Dropbacks war der Cardinals-Spielmacher überhaupt unter Druck. Seattle sollte sich vor der Trade-Deadline dringend nach einem weiteren Edge Rusher umsehen.
Die Highlights:
DK Metcalf verhindert mit diesem sensationellen Sprint den sicheren Pick-Six-Touchdown für die Cardinals. Die Defense belohnt seinen Einsatz anschließend mit vier starken Snaps an der Goalline.
Jetzt schon die Szene des Spiels: WR DK Metcalf auf einer Mission. Um den Pick Six zu verhindern. Und um für seinen kuriosen Fumble aus Week 3 Wiedergutmachung zu betreiben?pic.twitter.com/PNnOPxIeLs
— German Sea Hawkers (😷) (@SeaHawkersGER) October 26, 2020
Toe-Drag Swag von Tyler Lockett bei Fourth Down – immer wieder ein Genuss:
TWO FEET IN! 🙌
Make it 3️⃣ touchdowns on the day for @TDLockett12!
📺: #SEAvsAZ on NBC pic.twitter.com/3gTJUqoO1m
— Seattle Seahawks (@Seahawks) October 26, 2020
Die Seahawks in einem Tweet zusammengefasst:
Every single week. Every single fourth quarter. pic.twitter.com/qRIcA4llte
— Brett Kollmann (@BrettKollmann) September 27, 2020
Die Randnotizen:
- Die Serie, dass die Seahawks ungeschlagen sind, wenn sie mit vier oder mehr Punkten zur Halbzeit führten, endete in der Wüste Arizonas. Seattle führte zur Halbzeit noch mit 27:17. Erstmals überhaupt verlor Seattle zudem in der Wilson-Ära ein Spiel, in dem das Team zur Pause zehn oder mehr Punkte Vorsprung hatte. Die Bilanz in dieser Kategorie jetzt: 30-1.
- Geno Smith ist und bleibt der Coin-Toss-MVP. Vor der Overtime gewann er diesen wieder einmal und gab den Seahawks die Möglichkeit, das Spiel direkt im ersten Drive der Verlängerung für sich zu entscheiden.
Die Verletzten:
Cornerback Shaquill Griffin musste das Spiel wegen einer Gehirnerschütterung verlassen und auch Strong Safety Ryan Neal musste mit einer Concussion runter. Beide müssen nun das Protokoll durchlaufen. Ob sie kommende Woche schon wieder spielen können, wird ihr Zustand Anfang der neuen Woche zeigen. Erst symptomfrei dürfen sie wieder am Training teilnehmen.
Außerdem zog sich Running Back Chris Carson eine Zerrung im Mittelfuß zu. Ein Scan unter der Woche wird mehr Details zum Ausmaß der Verletzung bringen.
Das Zitat:
„I thought we played a great game except for those three plays (his picks) and those are my fault honestly… I have to be better.“ -Quarterback Russell Wilson über die Performance der Seahawks-Offensive
Der Tweet:
DK hawkte Buddas Hinterteil, aber – bleiben wir im Jargon – Budda und die Cardinals hawkten das Hinterteil der Seahawks:
DK HAWKED MY ASS… #RESPECT
— Budda Baker (@buddabaker32) October 26, 2020
Das Fazit:
Diese Niederlage tut vor allem so weh, weil die Seattle Seahawks ein direktes Divisionsduell verloren haben. Diese Spiele sind einfach besonders wichtig. Mut macht, dass das Team von Pete Carroll auch in dieser Partie eigentlich die bessere Mannschaft war und aus spielerischer Sicht einen Sieg mehr verdient gehabt hätte als die Arizona Cardinals.
Innerhalb von knapp sieben Minuten verspielten die Seahawks am Montagmorgen zehn Punkte Vorsprung. Erstmals in dieser Saison verteilten sie Geschenke an ein Team, das diese auch annahm. Es zeigte sich: Eine Offensive, die die Defensive nur eine Halbzeit lang mitträgt, reicht nicht aus, um einen ordentlichen Gegner zu schlagen. Seattles Baustellen wurde mehr als deutlich am frühen Montagmorgen.
Nun gilt: Abhaken, Mund abwischen, Fehler korrigieren (denn aus Niederlagen lernt man bekanntlich mehr als aus Siegen) und in der kommenden Woche gegen die San Francisco 49ers wieder in die Erfolgsspur finden. Dann hat Seattle aller Voraussicht nach auch endlich wieder Top-Safety Jamals Adams mit dabei. Was außerdem Hoffnung macht: Auch andere Teams mit gutem Record hatten schon ein schwaches Spiel. Und: Die Wahrscheinlichkeit, dass sich ein wackliger Auftritt von Russell Wilson am kommenden Spieltag wiederholt, strebt gegen null.
Ausblick: In Week 8 empfangen die Seahawks am Sonntag um 22.25 Uhr deutscher Zeit die San Francisco 49ers.