Da stehen wir jetzt. Schwache Saison. Doppelt so viele Niederlagen wie Siege. Verpasste Playoffs. Verletzter Quarterback, weit weg von Normalform. Frustrierte Receiver. Überforderte Defense. Und mittendrin? Ein unkreativer, beratungsresistenter Coaching Staff. Zum ersten Mal seit 2017 verlängern die Seahawks die Regular Season nicht. Zum ersten Mal seit zehn Jahren wird die Saison mit einem negativen Record enden. Zeit, grundlegende Veränderungen einzufordern.
Max Länge hat an dieser Stelle vor ziemlich genau einem Jahr einen klugen Kommentar geschrieben, den ich jedem noch einmal zum Lesen ans Herz legen kann. Schon damals waren die Probleme ähnliche wie heute. Allerdings mit deutlich besserer Ausgangslage. Und dadurch auch mit einem optimistischeren Blick in die Zukunft. Nun ist das Szenario eingetreten, was wir uns alle anders gewünscht hatten: Unser Lieblingsteam steht am Scheideweg.
Von Super Bowl-Teilnahmen und erfolgreichen Drafts
Ich mag wie ein undankbares kleines Kind klingen, wenn ich diese Zeilen schreibe. Die Franchise hat in den letzten zehn Jahren die erfolgreichste Zeit ihrer Geschichte auf den Platz gebracht. Die Kombination aus Head Coach Pete Carroll und General Manager John Schneider produzierte Anfang der 2010er Jahre mehrere nahezu perfekte Drafts und baute eine der besten NFL-Defenses aller Zeiten auf. Zeitgleich wurde mit Russell Wilson der zukünftige Franchise-Quarterback in der dritten Draftrunde aus dem Hut gezaubert. Diese Mischung führte zum ersten Super Bowl-Sieg der Seahawks und hätte eine echte Legacy aufbauen können. Ein Jahr später hinderte ein einziges Play das Team daran, einen zweiten Ring zu gewinnen. Über das, was im Anschluss alles schief gegangen ist, ist schon viel (mehr oder weniger Gutes) geschrieben worden. Fest steht: Es folgten zwar fünf Winning Seasons mit Playoffteilnahmen, das NFC Championship Game, geschweige denn der Super Bowl, konnten aber nicht mehr erreicht werden.
In einer Liga, in der es weder Auf- noch Abstieg gibt und in der man sich nicht – wie im europäischen Fußball – durch eine Saison im oberen Mittelfeld einen Platz in internationalen Wettbewerben für das nächste Jahr sichern kann, zählt nur eines: Gewinnen. Und zwar jedes einzelne Spiel, an jedem verdammten Sonntag. Inklusive des ersten Sonntags im Februar. Um in der Sprache von Pete Carroll zu bleiben: „Can you win a season in the first quarter? No! Can you win a season in the second quarter? No! Can you win a season in the Super Bowl? YES!”. Die Seahawks sind davon gerade weiter entfernt als zu irgendeinem Zeitpunkt in den letzten zehn Jahren.
Man könnte nun anführen, dass mit einem gesunden Quarterback die Spiele gegen die Steelers und die Saints nicht verloren gegangen wären. Und mit einem fitteren Wilson wäre gegebenenfalls auch ein Sieg gegen das Football Team aus Washington drin gewesen. Aber das würde über den allgemein schwachen Eindruck des Teams hinwegtäuschen. Und letztlich wäre mit diesem Team auch wieder nur maximal ein Sieg in der Wild Card Round drin gewesen. Wer sich ein Spiel der Packers, Buccaneers, Cardinals, Rams oder Cowboys anschaut, sieht das auf einen Blick. Dazu braucht es kein tiefes Footballwissen. Von diesem Leistungsniveau sind die Seahawks weit entfernt.
Die Bestandsaufnahme
Ich will an dieser Stelle den Analysen, die wir klassischerweise nach Ende der Saison zu den einzelnen Spielern, Positionsgruppen und dem Coaching Staff veröffentlichen, nicht vorgreifen. Es reicht allerdings ein kurzer Blick auf die Schlüsselpositionen und die Entwicklung der letzten Jahre, um ein klares Bild der Situation zu erhalten.
Pete Carroll als Anführer des Coaching Staffs sowie des Front Office ist in den letzten Jahren aufs Ganze gegangen. Der teure Trade für Jamal Adams sollte eine zweite Legion of Boom-Ära einläuten. Der zweimalige Austausch des Offensive Coordinators sollte neue Kreativität geben und vor allem das Passspiel weiter verbessern. Beides mit dem Ziel, konstanter auf beiden Seiten des Balles zu werden und erneut den Super Bowl zu erreichen. Gemessen daran ist Carroll gescheitert. Die Entscheidungen, die er trifft, sind und bleiben konservativ. Das sieht man deutlichst im In-Game-Coaching (Analytics, 4th-Down-Decisions), in der Grundausrichtung von Offense (Kreativität im Play-Calling, Run-First-Ansatz) und der Defense (Base vs. Nickel/Dime in einer passlastigen Liga) und auch in dem fehlenden Willen, an der richtigen Stelle unbequeme Entscheidungen zu treffen.
Russell Wilson ist ein Elite-Quarterback. Daran gibt es nichts zu zweifeln. Na klar, er hat seine Schwächen im Spiel: Third-Down-Conversions, Pocket Awareness und das Quick-Passing-Game sind auch nach zehn Jahren in der Liga nicht auf Spitzenniveau. Aber wer einmal einen Russell Wilson gesehen hat, der Plays außerhalb der Pocket in Houdini-Manier verlängert oder bei einem langen Moon Ball schon aufgestanden ist und den Touchdown gefeiert hat, bevor der Ball überhaupt beim Receiver angekommen ist, der weiß um die enormen Qualitäten dieses Quarterbacks. Diese Saison war auch verletzungsbedingt sicherlich schwächer als die letzten Jahre, aber ausreichend Juice hat er noch. Sein Mitspieler haben 2020 eine überragende Saison abgeliefert – scheiterte aber im wichtigsten Spiel. In dieser Saison war ein klarer Drop-Off zu sehen, der Ball konnte nie dauerhaft bewegt werden. Die meisten Punts in der gesamten NFL sprechen eine deutliche Sprache. Dass das sowohl am Personal und der Ausführung als auch am Coaching und Play Calling liegt, wurde in diesem Jahr überdeutlich.
Auf der anderen Seite des Balles konnte sich die Defense rund um Bobby Wagner und Defensive Coordinator Ken Norton Jr. nach jeweils zwei verkorksten Saisonstarts einigermaßen stabilisieren und gerade im Pass Rush zum Ende der Saison deutlich zulegen. Vor allem in dieser Saison beeinträchtigte aber auch die Offense die Leistung der Defense. Durch sehr kurze Drives auf der anderen Seite verlängerte sich die Time of Possession des Gegners und damit die Spielzeit der Defense dramatisch. Dadurch sind Konzentrationsfehler, Müdigkeit und Aussetzer fast schon vorprogrammiert. Ein kleiner Aufwärtstrend ist nur insofern zu erkennen, als dass die Defense in dieser Saison schon früher das Gaspedal fand und bessere Leistungen auf den Platz brachte. Accountability Meetings hat es aber mittlerweile definitiv ausreichend gegeben.
In der anstehenden Offseason wird sich entscheiden, wohin die Reise geht
Pete Carroll gehört zu den Head Coaches in der Liga, die nahezu unbegrenzte Entscheidungsbefugnis haben. Das liegt vor allem an zwei Faktoren: Er trägt den Titel des Vice President of Football Operations und ist damit höher gestellt als sein General Manager John Schneider und die Seahawks haben mit Jody Allen als Nachlassverwalterin ihres Bruders Paul eine vergleichsweise schwache Ownership. Was in vielen Situationen nur als Segen empfunden werden kann (vor allem wenn man im Vergleich auf Teams wie die Jaguars oder das Football Team schaut) macht es die aktuelle Situation in Seattle deutlich komplexer. Es ist kaum etwas über Jody Allen und ihre Haltung zu den Seahawks bekannt. Von Paul Allen wusste man, dass er sich kaum in das Tagesgeschäft einmischte, bei ihr wird es vermutlich ähnlich sein. In einer Pressekonferenz zur Saisonmitte erwähnte Carroll, dass er sich einmal im Quartal mit ihr zur Besprechung der aktuellen Lage der Dinge treffe. NFL-Insider veröffentlichten zudem vor etwa einem Monat, dass sie „very aware“ und „not happy“ mit der Situation des Teams sei. Klar ist: Sie ist die einzige Person, die Carroll entlassen kann. Sofern er nicht selbst zurücktreten wird, wonach es auch weiterhin nicht aussieht.
Noch nebulöser ist die Situation bei Quarterback Russell Wilson. Vor zwei Jahren forderte er mehr Mitsprache, mehr Verantwortung und mehr Beinfreiheit – und lieferte, zumindest teilweise. Vor dieser Saison forderte er mehr Unterstützung in der Offensive Line und Mitsprache bei der Auswahl des Offensive Coordinator – und schmierte ab. Die ständigen Rufe nach Extras sind zwar nichts ungewöhnliches für einen Franchise-Quarterback, machen die Situation für die Seahawks aber auch nicht einfacher. Gerade in dieser Saison stahl sich Wilson immer wieder aus der Verantwortung und zeigte zudem deutlich schwächere Leistungen, als zuvor. Er wirkte ständig so, als brauche er eine Pause. Sowohl mental wie auch physisch. Ob diese Pause nur eine normale Offseason ist oder ob er die Seahawks verlassen wird, kann Wilson aufgrund der No-Trade-Klausel in seinem Vertrag ganz allein entscheiden. Wie er diese Entscheidung treffen wird, ist Stand jetzt völlig unklar.
Für mich ist klar: Einer der beiden wird die Seahawks zum Saisonende verlassen. Kann Jody Allen sich dazu aufraffen, den bei den Fans immer noch äußerst beliebten Super Bowl-Head Coach Carroll zu entlassen, so wird auch ein beträchtlicher Teil des Coaching Staffs die Segel in Seattle streichen. Mein Gefühl sagt mir, dass das wohl die einzige Situation ist, in der Wilson zu halten ist. Andernfalls wird er die Franchise verlassen, um bei einem anderen Team und unter einem anderen, moderneren Head Coach sein Glück zu versuchen.
Veränderung wird es in Seattle nur dann geben, wenn mindestens eine der beiden starken Persönlichkeiten den Verein verlässt. Ob diese Veränderung positiv oder negativ sein wird, ist wahrlich schwer zu erahnen und von vielen anderen Seitenfaktoren abhängig. Ich selbst war immer vorsichtig, eine Entlassung von Carroll zu fordern. Spätestens jetzt ist aber völlig klar: Es muss etwas passieren. Sonst wird sich dieses Team dauerhaft im Liga-Bodensatz wiederfinden und hat keine Chance auf einen weiteren Titel. Ein Blick auf Teams, die schon seit Jahren ihren Franchise-Quarterback suchen (Browns, Jets, Jaguars, …) oder auch in die eigene Franchise-Vergangenheit zeigt: Ein Trade von Wilson könnte fatal sein und die Seahawks in ihrer Entwicklung um Jahrzehnte zurückwerfen. Gerade deshalb und auch vor dem Hintergrund des erfolgreichen Coaching-Wechsels in Green Bay bei ähnlicher Ausgangslage meine ich: Carroll hat sich den Ruhestand verdient, Wilson steht kurz vor seinem zweiten Frühling.