Ich möchte diese Ausgabe mit einem mehr oder weniger fiktiven Gespräch zwischen zwei mehr oder weniger fiktiven Football-Fans beginnen. Die Szenerie möge man sich bitte so vorstellen, dass beide einen regnerischen Sonntag auf der Couch verbringen. Beide haben einen Playstation-Controller in der Hand und ein Knöpfchen im Ohr. Sie befinden sich nämlich gut 300 Kilometer voneinander entfernt auf unterschiedlichen Sofas. Wir haben es den talentierten Programmierern bei Sony und EA zu verdanken, dass die beiden nicht nur eine Partie Madden NFL miteinander zocken, sondern sich nebenbei sogar noch unterhalten können. Und so begab es sich, dass man zwischen Kickoff und Touchback auf die Free Agency zu sprechen kam.
„Sag mal, dieser Malcolm Butler von den Patriots, der hat euch doch damals in Super Bowl 49 den Sieg vor der Nase weggeschnappt, oder?“
In der Football-Simulation hat der Returner mittlerweile abgekniet und das Auswahlmenü für den Spielzug erscheint auf beiden Bildschirmen. In Madden muss der Spieler, der mit der Defense beginnt, mit seinem Call warten, bis der Spieler mit der Offense einen Spielzug ausgewählt hat, wofür ihm die bekannten 40 Sekunden bleiben.
„Ja, ist richtig, warum? Drück mal drauf da! Nun wähl endlich dein Play!“
Der Hamburger Protagonist hämmert im hoffnungslosen Bemühen, die Wartezeit zu verkürzen, auf die X-Taste.
„Ach ja, sorry!“ Der Berliner Protagonist wählt seine Angriffsformation. „Frage mich nur, warum den noch keiner weggekauft hat. Der ist doch Free Agent, oder? Hab ich jedenfalls gelesen. Allein dieses eine Play muss den doch bekannt gemacht haben.“
Der andere Spieler, vollkommen überrascht vom plötzlichen Auswahlbildschirm und immer noch die X-Taste hämmernd, hat versehentlich willkürlich irgendeine Defense-Formation gewählt.
„Na toll, jetzt habe ich hier irgendwas gewählt, weil plötzlich dieser Bildschirm kam. Keine Ahnung wie die sich jetzt aufstellen. Kannst du dir schenken, wenn du jetzt einen Touchdown machst!“
„Jaja, jetzt rede dich nicht schon wieder vorher raus. Anyway, was ist mit Butler, warum will den keiner?“
„Kann mir schon vorstellen, dass andere Teams den wollen aber der ist glaube ich Restricted Free Agent.“
In Berlin wird der digitale Ball gesnapped. „Was für ein Free Agent? Restricted? Was soll das sein?“
Mit einigen Millisekunden Verzögerung (die sich regelmäßig zu vollen Sekunden ausweiten können!) bewegt sich der Ball auch auf dem Bildschirm in Hamburg.
„Restricted Free Agent. Das heißt, dass er sich die Angebote von anderen Teams anhören darf. Wenn aber der aktuelle Verein gleich zieht, muss er da bleiben. Wenn sie ihn gehen lassen, bekommt der aktuelle Verein im Austausch einen vorher festgelegten Draft Pick.“
Der überraschte Spieler in Hamburg hat bei seinem nervösen Geklicke offensichtlich einen Blitz-Spielzug gewählt und sieht nun zu, wie gleich alle drei Linebacker in Richtung des gegnerischen Quarterbacks stürmen.
„Verstehe ich nicht“, schnarrt es aus Berlin durch die Leitung.
Mittlerweile hat ein Receiver den Ball gefangen und dreht die quer übers Feld laufende Slant-Route in einen steil zur Endzone führenden Sprint.
„Was gibt’s daran nicht zu verstehen? Soll ich wieder einen Vergleich mit deiner Freundin machen?“
Das Gespräch der beiden ist damit noch nicht beendet, der folgende Touchdown hat den Unterhaltungswert jedoch erheblich verringert.
Restricted Free Agency ist eine wirklich interessante Formalität im Geschäftsmodell American Football. Ich empfehle wärmstens, sich da mal einzulesen. Heute aber geht es um Spieler, die nicht mehr zu haben sind, weil die Seahawks sie bereits verpflichtet haben. Da sind seit dem 9. März, dem Beginn der Free Agency-Phase, dann doch schon ein paar zusammengekommen. Lässt man die Spieler außen vor, die bereits in der vergangenen Saison für Seattle aktiv waren und deren Verträge lediglich erneuert/verlängert wurden, zähle ich zum Zeitpunkt der Erstellung dieser Kolumne insgesamt neun Neuverpflichtungen. Ein kurzer Überblick:
- Blair Walsh / Kicker / Hat das potentiell spielentscheidende Field Goal der Minnesota Vikings gegen die Seahawks in der Wild-Card Round 2015 verschossen.
- John Lunsford / Kicker / Soll Blair Walsh im Nacken sitzen und ihm klar machen, dass er so ein Field Goal bei den Seahawks besser nicht verschießt.
- Luke Joeckel / Offensive Lineman / Kommt, um die notorisch zerfetzte O-Line zu flicken.
- Oday Aboushi / Offensive Lineman / Auch er soll unserer O-Line zu alter Stärke verhelfen.
- Eddie Lacy / Running Back / Mit einem Durchschnitt von 3,4 Yards After Contact trotz oder gerade wegen der Gewichtsprobleme in 2016 enorm schwer zu stoppen.
- Arthur Brown / Linebacker.
- Michael Wilhoite / Linebacker.
- Terence Garvin / Noch mehr Linebacker.
- Bradley McDougald / Safety / Soll sich der absurd realitätsfernen Aufgabe stellen, eine Safety-Position zu übernehmen, falls Earl Thomas oder Kam Chancellor ausfallen.
In dieser Auflistung lässt der Name Eddie Lacy vermutlich die meisten Glocken da draußen läuten. Dass auf der Running Back-Position Verstärkung gesucht werden würde, nachdem sowohl Thomas Rawls als auch C.J. Prosise in der vergangenen Saison jeweils für mehrere Spiele ausgefallen sind, war nicht überraschend. Da sich die Ausfälle zum Teil sogar überschnitten, wurde mit Christine Michael kurzfristig ein erfahrener Mann eingestellt, der nach schwachen Leistungen und einem sich besserndem Krankenstand genauso schnell wieder entlassen wurde. Nach vier Jahren in der NFL – alle bei Green Bay – darf auch Lacy als einigermaßen erfahren bezeichnet werden, ein Veteran ist er aber sicher nicht. Trotzdem zeigte der Finger im verrückten Running Back-Karussell schließlich auf den 26-Jährigen aus Louisiana. Andere Spieler, die ebenfalls für diese Position bei Seattle vorstellig wurden, hat man ziehen lassen. Zu nennen wäre da natürlich Adrian Peterson, der unglaubliche zehn Saisons bei den Minnesota Vikings in den Knochen hat, oder auch Latavius Murray, seit 2014 bei den Oakland Raiders und in der neuen Saison seinerseits für die Vikings tätig. Am Ende war es wohl die Kombination aus dem relativ jungen Alter und dem vergleichsweise günstigen Gehalt, was dazu führte, dass John Schneider in der Geschäftsstelle anrief und die Personalabteilung anwies „Eddie Lacy“ auf den Vertrag zu schreiben. Vielleicht hat Blair Walsh aber auch gegen seinen ehemaligen Teamkollegen Peterson gehetzt: „Als wir im Wild-Card Game gegen euch in der Kabine waren, hat der immer gesagt, Pete Carroll sieht aus wie John Kerry und versteht genauso viel von Football!“
Die besten Leistungen erzielte Lacy zu Beginn seiner NFL-Karriere 2013 und 2014. Seitdem stockt der Motor, was auch daran liegt, dass er schlichtweg weniger Versuche hatte. In 2015 war er zwar für 15 Spiele gelistet, erhielt aber lediglich 187 Rushing Attempts für 758 Yards. Zum Vergleich, in 2013 (als Rookie) waren es 284 Attempts für 1.178 Yards. Und 2016 folgte dann sogar seine bisher schwächste Saison. In lediglich 5 Spielen kam er auf 360 erlaufene Yards. Allein die sehr guten 5,1 Yards pro Versuch lassen sich als Pluspunkt anführen. Die Crux dabei ist, dass Lacys Performance unter seiner Verletzungsanfälligkeit leidet. „Noch so einer?“ möge man nun fragen, und „ja“ lautete die Antwort. Auch Lacy hat des Öfteren mit Verletzungen zu kämpfen. Ich gehe aber ohnehin davon aus, dass in der neuen Saison wieder Thomas Rawls als Starter aufläuft. Und dass gleich drei Running Backs (Lacy, Rawls und Prosise) verletzungsbedingt nicht zur Verfügung stehen, halte ich dann doch für ziemlich unwahrscheinlich.
Die einigermaßen entspannte Personalsituation im Backfield, erlaubt es hoffentlich, den Focus beim NFL Draft (27. bis 29. April) auf andere Bereiche zu legen. Die wackelige O-Line wäre ein guter Kandidat. Sowohl Pass Protection als auch Run Blocking ließen einem 2016 oftmals die Haare zu Berge stehen, oder Kartoffelchips durchs Zimmer fliegen, um in meinem Bild zu bleiben. Wer sich daran erinnern kann, wie Wilson in der vergangenen Saison um sein Leben lief, der weiß wovon ich rede. Da ist es auch nicht überraschend, dass Wilson sich 2016 die beiden einzigen ernsthaften Verletzungen seiner Profi-Karriere zugezogen hatte (Fußgelenk und Knie) und trotzdem weiterspielen musste.
Was das Run Blocking betrifft, ist es sicherlich von Vorteil, dass es eine Stärke unseres Neuzugangs Lacy ist, auch nach dem ersten Körperkontakt beachtlichen Raumgewinn zu erzielen. Das spielt der lückenhaften O-Line in die Karten. Auf Dauer kann das Running Game jedoch nur mit einem ordentlichen Blocking – Achtung Wortwitz! – ins Laufen kommen. Mal abgesehen davon, wieviel wahrscheinlicher es ist, sich zu verletzten, wenn man nach drei Yards bereits in einem Gemenge aus 120 Kilogramm schweren D-Linern und heranstürmenden Linebackern hängen bleibt.
Ein schneller Blick auf die Liste zeigt, bisher wurden mit Luke Joeckel und Oday Aboushi zwei O-Liner unserem Team hinzugefügt. Joeckel verbrachte die vergangenen vier Jahre bei den Jacksonville Jaguars – seiner bisher einzigen Profi-Station, wo er aufgrund der wechselhaften Personalsituation zunächst als Right Tackle begann, obwohl Left Tackle seine angestammte College-Position war. Eine schwere Knöchelverletzung zwang ihn bereits in Woche 6 seiner Rookie-Saison auf die Injured-Reserve-Liste. Nach durchwachsenen Leistungen wurde Joeckel 2016 dann auch noch als Left Guard eingesetzt, nachdem die Jaguars einen neuen Tackle verpflichtet hatten. Oday Aboushi kommt von den Houston Texans. Der 140-Kilo-Mann spielt ebenfalls Left Guard, was darauf schließen lässt, dass Joeckel wieder als Tackle zum Einsatz kommen wird. Es bleibt jedoch abzuwarten, wie O-Line-Trainer Tom Cable die neuen Spieler in seine Strategie einbindet. Im Fall von Joeckel, kommt das ohnehin einem Neuaufbau gleich, da dieser im vergangen Herbst am Knie operiert werden musste und seit Woche 4 nicht mehr auf dem Platz stand. Auch hier zeigt sich das Faible der Seahawks-Verantwortlichen, verletzungsgeplagte Spieler an Board zu holen. Entweder man hofft, dem Pech aus dem Weg zu gehen oder aber man hat unbändiges Vertrauen in das eigene Phyiso-Team. Hat schon mal jemand geschaut, ob der Müller-Wohlfahrt mittlerweile in der NFL tätig ist? Es bleibt abzuwarten, wo und mit wem die Seahawks sich weiter verstärken wollen. Sei es in der Free Agency, beim Draft oder anschließend auch bei den Undrafted Free Agents, wo bereits des Öfteren ein feines Händchen bewiesen wurde (z.B. bei Thomas Rawls oder Doug Baldwin).
Was es mit den restlichen Neuzugängen und der Masse an Linebackern auf sich hat, erfahrt ihr bald in einem separaten Beitrag auf unserer Homepage. Apropos Masse: Ich möchte noch erwähnen, dass man dem kaschen (aus dem Brandenburgischen für „leicht dicklich“) Eddie Lacy eine Gewichts-Klausel in den Arbeitsvertrag geschmuggelt hat. Hält er das vertraglich definierte Gewicht zu sieben vorher festgelegten Terminen ein, belohnt man ihn mit 55.000 US-Dollar pro Wiegen. Das sind ungefähr 52.000 Euro. Ja doch, würde ich auch nehmen, wenn es mir jemand anbieten würde! Hätte sicher einen positiven Einfluss auf meine Bikini-Figur. Aber auch so, schön, dass bald Sommer ist.
Bis dahin. Go Hawks
Die Vogelperspektive ist eine Fan-Kolumne von Hannes Gärtner, dessen Puls bei 1000 liegt, wenn Blair Walsh zum Extra Point antritt oder Richard Sherman nicht die Seite wechselt, um den Superstar-Receiver des Gegners zu covern. Es kommt schon mal vor, dass seine Freundin die Unnecessary Roughness-Flagge wirft, wenn die Chips vor Aufregung durchs Wohnzimmer fliegen. Die Kolumne erscheint monatlich und beschäftigt sich auf pointierte Weise mit Themen rund um die Seattle Seahawks.